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Inszenierungen der Gesellschaft

Wie politisch ist die Kunst? Wie politisch ist die Politik? Das MMK in Frankfurt lud im Januar zum Nachdenken über gegenwärtige Gesellschaftsformationen ein. Ein Bericht.

  • Mar 29 2020
  • Quynh Tran & Miryam Schellbach
    Quynh Tran schreibt als freie Autorin für Publikationen wie Frankfurter Allgemeine Zeitung, Artnet und Vogue über Themen an der Schnittstelle von Kultur, Stil und Gesellschaft.

    Miryam Schellbach lebt in Frankfurt am Main. Sie ist Lektorin in einem Wissenschaftsverlag und Redakteurin der Literaturzeitschrift “Edit. Papier für neue Texte.”

Immer wieder kündigt die AfD an, gegen die politische Kunst, konkret, gegen “propagandahaft-erzieherische” Inhalte vorgehen zu wollen. Was hinter dieser Klage steht ist selbstverständlich ein xenophober, kulturkämpferischer Affekt gegen pluralistische, kosmopolitische, egalitäre Inhalte und Forderungen dem Kulturbetrieb gegenüber. Kunst ist auf viele Arten politisch . Entzieht sich der Inhalt eines Werks einer plakativen politischen Proposition, so bleibt immer noch sein materalistischer Wert und sein Kontext. Damit beschäftigt sich auch die aktuelle Ausstellung im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main. 

Mit dem Titel “Museum” lädt das MMK ein die Institution als Matrix der Möglichkeiten zu dekonstruieren. Der Gang durch das dreigeschossige Hollein-Gebäude gleicht einer Chronologie des Politischen in der Kunst seit den sechziger Jahren bis in die Gegenwart. Eine, die mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung beginnt, die mit der Hochphase der Dekolonialisierung und des Second-Wave-Feminismus zusammenfällt, in der scheinbaren Zerbrechlichkeit heutiger Demokratien aufgeht, und auch vor utopischen oder dystopischen Ausblicken nicht zurückschreckt.

Es sind Arbeiten wie Joseph Beuys’ “Boxkampf für die direkte Demokratie” (1972), mit der die Arena des Diskurses um gegenwärtige Gesellschaftsformen durch einen ästhetischen Akt in der Ausstellung eröffnet wird. Und es ist ein sprachliches Ringen um genau diesen. Er wird im Rahmen des Symposiums “Performing Society” im Januar 2020 geführt, mit dem das Museum als Podium des politischen Diskurs. Beuys’ einst real geführter Boxkampf könnte in seiner Symbolkraft dringlicher kaum sein und wird in den Diskussionen von internationalen WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen und JournalistInnen in Form eines wissenschaftlichen Symposiums neu aufgelegt.

Die Werke im “Museum”, die wie Mahnmale der Zerbrechlichkeit von Freiheit und Demokratie über dem Symposium wachen, hallen nach in den Worten im... Museum. Und dieser Tage ist es eben nicht nur Ausstellungsraum, sondern Safe Space für eine Reflexion über Gesellschaftsbildung abseits des Mainstreams. 

“Ein Museum ist ein Raum, wo man ganz anders über die Gegenwart nachdenken kann“ 

Das Diktum der MMK-Direktorin, Susanne Pfeffer, bezieht sich genauso auf die Ausstellung wie auf das Symposium. Gesellschaft performen - Gesellschaft bilden: Unter der Prämisse, dass Gegenwartsanalyse, aber auch utopisches Denken, im weiten oder auch im ganz engen Sinne ästhetische Prinzipien verfolgen oder  Formen annehmen kann, lassen sich die Imagination und Konstruktion des Sozialen und des Politischen ganz neu denken. Die aufklärerischen Ziele - Freiheit, Transgression, Widerständigkeit - stehen dabei genauso zur Disposition, wie unsere Sprache, unsere Gerechtigkeitsvorstellungen oder die Deutung aktueller Bewegungen. Die dringenden Diskussionen, die in Text und Bild geführt werden, bekommen mit dem Symposium eine persönliche Dimension, immaterielle Diskurse, die sonst von digitalen Avataren geführt werden, werden zu physischen Begegnungen, dieser Tage rare analoge Konfrontationen. 

Ist die Sprache, die wir nutzen um über unsere Gesellschaft nachzudenken, überhaupt die Richtige? Berufen wir uns auf angemessene Kategorien und Konzepte zur Beschreibung des Zustands unserer Gesellschaften? Was meinen wir beispielsweise, wenn wir Demokratie sagen? Und wie fühlt es sich an, das in einem Raum mit echter Präsenz auszudrücken? Der aus Paris angereiste Philosoph Geoffroy de Lagasnerie glaubt, dass der ubiquitäre Wunsch nach “mehr Demokratie” in die Irre führt, weil wir gar nicht alle über das Gleiche sprechen. Die Sprache, die wir für unsere politischen Vorgänge haben, erscheint ihm zu ungenau, ihre Konzepte und Gegensätze, wie der von “demokratisch vs. undemokratisch” zu homogen, als dass sie die Komplexität unserer Gesellschaft abbilden können. 

Wenn sich Trump, Erdogan, Merkel, Bolsonaro und Habermas alle auf „diese Demokratie“ beziehen, müssen sie Unterschiedliches mit dem Wort meinen. Kann es also sein, dass sich dahinter mehr verbirgt als Wahlen, politische Rechte, Pluralismus, Minderheitenschutz, Pressefreiheit oder soziale Gerechtigkeit? Für de Lagasnerie läuft “Demokratie” Gefahr, ein leerer Signifikant zu werden. Ein mythisch aufgeladenes Konzept, auf das sich jederberufen kann, und welches dazu dient, das, was ist, zu verschleiern, und die politische Ordnung als diejenige auszugeben, die von den Personen, die von ihr beherrscht werden, gewünscht wurde. 

Eine Mystifizierung des politischen Fundaments unseres Zusammenlebens aber blockiere unser Vorstellungsvermögen für neue politische Utopien und stelle das kritische Bewusstsein still. Der zeitgenössisch dringlichste Anknüpfungspunkt für die Kritik an Ungleichheiten und fehlenden Repräsentationen in den europäischen Staaten ist für de Lagasnerie eine polizeiliche Repression, die sich besonders gegen arabische und schwarze junge Männer richtet und gegen die der Philosoph mit dem Kollektiv “Gerechtigkeit für Adama” mobilisiert. Hinter der Forderung nach “mehr Demokratie” steht mehr Macht für “das Volk”. Doch auch hier interveniert de Lagasnerie: Das Volk ist keine Entität, sondern eine Vielzahl von Meinungen, Haltungen und Hintergründen; viele derjenigen, die zum Volk gehören, sind in unseren Parlamenten nicht repräsentiert. Um auch diese zu schützen, müsste die Forderung sein: Keine Macht für Niemand.

Dass die Frage der Repräsentation, also symbolische oder zeremonielle Formen der Vertretung, nicht nur im Bereich der Politik, sondern auch im Kunstbetrieb heftige Kontroversen auslösen, zeigt die New Yorker Künstlerin und Kuratorin Aria Dean. Alle gängigen hermeneutischen Verfahren der Kunstrezeption basieren auf einem Paradigma der Repräsentation, das im Humanismus und Vitalismus verankert ist. Den klassischen Formen repräsentationaler Kunstrezeption geht jedoch die Perspektive des Marktes verloren: Wer profitiert zum Beispiel von einem universellen Repräsentationsrecht, wer hingegen wird permanent auf den vermeintlich eigenen Horizont reduziert? Aria Dean war eine der wesentlichen Kritikerinnen von Dana Schutz, die auf der Whitney Biennale 2017 massive Proteste auslöste. Ihr Gemälde “Open Casket” war eine künstlerische Annäherung an die ikonische Fotografie der Leiche von Emmett Till, einem afroamerikanischen Jungen, der 1955 von zwei Weißen ermordet wurde. Weil sich Schutz, so die Kritik, schwarzes Leid aneignete, und damit auf einem traditionell weiß dominierten Kunstmarkt Profit generierte, sollte das Bild nicht auf der Biennale zu sehen sein. 

Einige forderten gar die Zerstörung des Werks. Schutz wollte sich aber angeblich mit allen Eltern solidarisieren, die ganz unabhängig von ihrer Hautfarbe, ein Kind verloren haben. Eine Annäherung von BefürworterInnen und KritikerInnen gab es nicht. Für Dean steht die Kontroverse dafür, dass wir nicht den richtigen Werkzeugkasten an der Hand haben, um über die materialistische Dimension von Kunst zu diskutieren. Die Debatte sollte sich von der Angst vor der Zensur der Kunst freimachen und stattdessen darum kreisen, wer, wann und warum zu welchem Zweck ein Bild gemalt und verkauft hat. Aber auch darum, wer überhaupt das Recht hat, abstrakt zu werden und wer wiederum in die Figuration gezwungen wird. Gleichzeitig wünscht sich Dean eine grundsätzliches Abkehr davon, “menschliches Leben durch eine klassisch figürliche Subjektivität zu denken”. Sie hofft auf mehr Abstraktion, ohne die materiell-politische Seite von Kunst auszublenden, und letztlich eine “vektorielle, thanatische Analyseform”. 

Einen guten Anlass für eine wechselseitige Befruchtung von materialistischen und auch repräsentationistischen Interpretamenten bieten die Arbeiten von Adrian Piper in “Museum” (“Adrian Moves To Berlin” von 2007 und “The Mythic Being” von 1973), in denen biografische Aspekte spielerisch und ironisch als Projektionsfläche für sozialkritische Fragen herhalten müssen. Der Beitrag von Lea Ypi, Professorin für Politische Theorie, bestätigt die Vermutung, dass “Repräsentation” der Schlüsselbegriff beim gemeinsamen Nachdenken über die Gesellschaft und ihre drängenden Veränderungen ist, zu dem Susanne Pfeffer und Anna Sailer mit dem Symposium eingeladen haben. Ypi stellt eine Möglichkeit vor, über Immigration nachzudenken, ohne sich dabei, wie üblich, auf einen Multikulturalismus einerseits oder einen Transnationalismus andererseits zu berufen. 

Denn Klassenkonflikte durchkreuzen Nationalstaaten. Deswegen gibt es, glaubt man nicht an die verbindliche Kraft von nationalstaatlichen Grenzen, keinen Grund “domestic workers” vor migrationswilligen Arbeiter*innen zu bevorzugen. Lea Ypis Prämisse ist, dass alle grundsätzlich gleich prekär und somit verletzlich sind. Dass dies zutrifft, wird anschließend vom Auditorium bezweifelt, bestehen doch grundlegend Hierarchien auch innerhalb einzelner Arbeitsstellen zwischen Festangestellten und etwa ZeitarbeiterInnen. Rainer Forst und Gurminder K Bhambra hingegen berufen sich auf eine frühere Stufe: 

Wo fängt Macht an? Welche Konsequenzen sind aus den Machtverhältnissen, die die heutigen geopolitischen Konstrukte geschaffen haben, zu ziehen? 

Wie zwei Pole - den männlichen und den weiblichen, den theoretischen und den praktischen, den ontologischen und den konsequentialistischen - diskutierten diese beiden Wissenschaftler*innen. Während Forst noch in der Tradition der Kritischen Theorie um die Bedingungen von Macht und Machtausübung im Sinne der Einflussnahme des Denkens argumentiert - man denke an Professor X in X-Men, nicht derjenige mit der größten physikalischen Macht ist der Mächtigste, sondern derjenige, der den Geist kontrolliert - stellt Bhamba die moderne europäische Denkschule gänzlich in Frage. Bewegt man sich aus dem westlichen intellektuellen Nukleus, so zeige die Kolonialisierung doch die Relativität der modernen Moraltheorie. Was richtig und was falsch ist, ist mitnichten universell. Gerechtigkeit ist, ganz im Gegenteil, von Perspektive geprägt. 

Reicher Mann und armer Mann standen da und sahn sich an. Und der Arme sagte bleich: “Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich”, schrieb einst Bertolt Brecht. Globalgeschichtlich gewendet: Der westliche Wohlstand ist auf das Leid der Kolonien gebaut, selbst die erste westliche Demokratie der Moderne ist auf Landraub und Genozid gebaut. Wie reparieren wir diese Geschichte? Wenn Bhambra von dieser generationsübergreifenden Verantwortung spricht und die komplexen historischen Zusammenhänge aufführt, die die heutige Verantwortung nicht nur wünschen lassen, sondern moralisch einfordern, dann korrespondiert das auch mit Arbeiten in der Ausstellung, die die Deutungshegemonie kultureller und ästhetischer Hierarchien der westlich geprägten Moderne angreifen, wie etwa Victoria Santa Cruz “Me Gritaron Negra” (1978), die Bewusstsein, Anerkennung und Freiheitsrechte von Minderheiten reklamieren. 

Bhambra argumentiert auf dieser Grundlage, dass wir historischen Fortschritt als zentrale normative Dimension der kritischen Theorie aufgeben müssen, um endlich Raum zu schaffen, “das benannte Unrecht der Vergangenheit durch eine Verpflichtung zu epistemologischer Gerechtigkeit und Reparationen zu überwinden” - das Denken zu dekolonialisieren reiche nicht, es braucht Taten. 

Aber nicht mit jedem muss diskutiert werden, findet Journalistin Natasha Lennard und positioniert sich damit entschieden gegen ihre Nachrednerin Nina Power, die strategische Diskursauschlüsse für “Zensur” hält. Lennard beruft sich darauf, dass Rede und Äußerung oft, gerade in politischen Diskussionen, auseinanderfallen und argumentiert, dass britische Suprematisten in ihren Sprechakten etwa über Migration weniger auf den propositionalen Gehalt ihrer Worte setzen als auf die drohende Wirkung zum Beispiel der Beschreibung von steigender Kriminalität durch Migration. Es ergibt, so Lennard, somit auch nur wenig Sinn, ihnen argumentativ mit “einem vernünftigen Austausch von Ideen” zu begegnen. Ihr resolutes Fazit: Eine Eingrenzung des naiv verstandenen Rechts zur absolut freien Meinungsäußerung und stattdessen eine Konzentration auf “emanzipative Sprachspiele”- was selbstverständlich wiederum den ästhetischen Raum miteinschließt, erinnert man sich beispielsweise an Victoria Santa Cruz. 

Wie der gegenwärtige und perspektivische Diskurs wiederum durch “transaktionale Realitäten” beeinflusst wird, wie also das Soziale durch die technologischen Gegebenheiten neu konstituiert wird, greift Tiziana Terranova auf. In der Tradition moderner Kapitalismuskritik argumentiert sie, dass die gegenwärtige unternehmerische Hypersozialität zwar einen extremen ökologischen, politischen und wirtschaftlichen Wandel eingeleitet hat, aber bisher nicht die Mittel bereithält, die politischen Vorstellungen über die Gesellschaft der Zukunft zu definieren. Matteo Pasquinelli wiederum zeigt mit einer Einführung in die Kulturgeschichte des Algorithmus, wie technologische Prozesse seit jeher aus Praktiken des gesellschaftlichen Lebens hervorgegangen sind, wie also die Sehnsucht danach etwas Ur-menschliches ist. 

Was in der Vielfältigkeit der Standpunkte des Symposiums den sozialen Diskurs zusammenhält, also was das Soziale überhaupt ist, das sucht letztlich Markus Gabriel in einem Ausblick auf seine neueste Forschung zu umreißen. Gabriel, der umso mehr an die Kritik der phallischen Dominanz in den ebenfalls in der Ausstellung vertretenen Malereien von Pamela Rosenkranz erinnert: “Sozialität entsteht, wenn mehrere Individuen sich im Dissens befinden”, liefert das passende Schlusswort für das Symposium. Performing Society hat einmal mehr das Verlangen, ja die Notwendigkeit gezeigt, die gegenwärtige Verhältnisse unserer Gesellschaft zu verhandeln. Entkoppelt von den Werken, von den Räumlichkeiten, von der Statik der Konservierung des Museums, ist das Symposium die passende Form, Ambivalenzen der Gegenwart aufzeigen. Der ästhetische Raum hat Platz geschaffen für einen Austausch, dessen Zwischentöne die Dringlichkeit untermauern, intellektuelle Konfrontationen konsequent in Richtung der gegenwärtigen politischen Konstellationen zu kanalisieren. Gelingt dieser Imperativ – das hat Performing Society gezeigt – eröffnet eine polyphon-dissonante Reflexion auf unsere Gesellschaft neue Denk- und Handlungsspielräume.



  • IMAGE CREDITS
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    Cindy Sherman, "Hey", posted on instagram 25.10.2019. Courtesy of the artist and Metro Pictures, New York.

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