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OBDACHLOS SEIN IST TEUER

Ein Interview mit Michael, einem Verkäufer von Arts of the Working Class in Frankfurt am Main, und ein Kommentar zur Medienberichterstattung über das Frankfurter Bahnhofsviertel.

  • Jan 17 2022
  • Maike O’Reilly and Jeronimo Voss
    Maike O’Reilly ist Sozialwissenschaftlerin.
    Jeronimo Voss ist bildender Künstler und Mitbetreiber von Synnika.

    Michael arbeitete in der Logistik und zuletzt in der Gastronomie, bis er
    wohnungslos wurde.
    Michael: Ich möchte meinen Dank aussprechen an die Redaktion von Arts of the Working Class, ganz besonders an die Verteiler-Crew in Frankfurt sowie Marcel und sein Team vom Weinschirn am Frankfurter Römer, die immer ein offenes Ohr für mich haben, einen leckeren Flammkuchen und ein Glas Wein für die Seele.

Seit wann verkaufst du Straßenzeitungen?
Seit etwa fünf Jahren. Ich habe angefangen mit der „Streetworker“-Zeitung (heute: „Straßenlicht“), dann kamen die „Straßen Gazette“, „FiftyFifty” und andere.

Wo genau verkaufst du in Frankfurt?
Ich verkaufe viel am Römer in der Innenstadt, in Sachsenhausen, im Bahnhofsviertel, an der Außengastronomie an der Münchener Straße. Auch im Hauptbahnhof wurde ich geduldet – da konnte ich auch mal im stehenden ICE verkaufen. Aber dann kamen neue Sicherheitsleute und haben mich weggeschickt. Ich stand auch viel an Supermärkten, zum Beispiel am Lokalbahnhof, aber die Filialleiter dulden das auch nicht mehr.

Was bringt dir der Zeitungsverkauf?
Obdachlos sein ist teuer. Ohne Kühlschrank, Waschmaschine, Kleiderschrank habe ich hohe Ausgaben für meinen Tagesbedarf und da ist die Zeitung ein hilfreicher Zuverdienst. Den habe ich dank meiner Stammkunden, die mir regelmäßig die Zeitung abkaufen und mich, auch wenn sie sie schon haben, trotzdem unterstützen. Und ich verdanke den Zuverdienst den Gastwirten am Frankfurter Römer und in Frankfurt Sachsenhausen, die mich die Zeitung verkaufen lassen.

Was hat sich durch Corona für dich verändert?
Die Distanz auf der Straße hat sich auf jeden Fall erhöht, aber ich bemerke auch deutlich mehr Hilfsbereitschaft. Es ist zwar immer noch selten, aber es kommt jetzt öfter vor, dass einzelne Leute wirklich helfen wollen, etwa mit Schlafangeboten im Winter. Doch insgesamt werden die Leute immer misstrauischer. In Frankfurt hat die Armut auf der Straße stark zugenommen. Die Notschlafangebote wurden zu Beginn der Pandemie halbiert. Ich selbst bin auch vorsichtiger geworden und schlafe bis heute nicht in Notunterkünften, weil ich Sorge habe, mich mit Corona anzustecken.

Welche Reaktionen bekommst du auf der Straße?
Wenn ich Leute anspreche, bekomme ich zu hören: „Ich bin selber obdachlos“ und dabei wird gelacht, oder „Ich hab nur große Scheine“, „Für was bezahl’ ich Steuern“, „Such dir’n Job“. Ich komme aber auch öfter ins Gespräch mit Menschen, die sich für meine Lebensgeschichte interessieren. Darauf kann ich nicht immer eingehen, aus Zeitgründen und weil es auch für mich belastend ist, immer wieder darüber sprechen zu müssen. Letztens kam ich mit jemand auf der Straße ins Gespräch, der meinte, er habe die erste Ausgabe von Arts of the Working Class gerahmt an der Wand hängen – also solche Reaktionen gibt’s auch.

Was hat Arts of the Working Class für dich verändert?
Für mich hat es einen großen Vorteil, dass die Zeitung kostenlos abgeholt werden kann. Bei den anderen Zeitungen, die nicht werbefinanziert sind, muss ich in Vorleistung gehen. Ich kann sie auch nicht an jedem beliebigen Tag abholen, sondern nur an ganz bestimmten Wochentagen, was dann nicht immer für mich passt.

Welche Möglichkeiten hast du noch, um dich zu finanzieren?
Obdachlosengeld gibt es nur gegen Anmeldung und, je nach Stadt, nur für ein paar Tage. In jeder Kommune gilt eine bestimmte Uhrzeit, während derer du aufs Amt gehen kannst, meistens zwischen 10 und 12 Uhr, dann bekommst du einen sogenannten Tagessatz für Durchwanderer, der dem aktuellen Hartz-IV-Satz entspricht – also etwa 13,50 Euro plus Krankenversicherung für diesen einen Tag. Bei manchen Kommunen geht das nur drei Tage hintereinander, bei anderen auch mal bis zu 14 Tage am Stück. Ich denke, die machen das, damit du immer unterwegs bist und nie länger an einem Ort bleiben kannst. Dadurch, dass du persönlich vorbeigehen musst, wirst du im Prinzip gezwungen, ohne U-Bahn – oder Busticket zu diesem Termin zu fahren. Viele sind deswegen schon in den Knast gegangen, denn die Verkehrsgesellschaften können hier wegen der Erschleichung von Leistungen sofort Anzeige erstatten. Ich war auch schon in Haft, weil ich die Geldstrafe nicht zahlen konnte. Wenn es dann zur Gerichtsverhandlung kommt, kostet das etwa 700 bis 1000 Euro.

Wie kommst du über den Winter?
Das weiß ich noch nicht genau. Letztes Jahr habe ich eine Therapie gemacht und anschließend vom Sozialamt ein Zimmer in einem Wohnheim bekommen. Das wurde mir leider kurz vor Weihnachten von heute auf morgen gekündigt – wegen angeblich fehlender Mitwirkung, also weil ich eine Bewerbung weniger vorweisen konnte, als in der Zielvereinbarung stand. In der Zeit hatte ich wegen einer
Grippe eine vierwöchige Krankschreibung, die die Mitarbeiterin vom Sozialamt sich nicht mal angesehen hat. Als ich wieder angefangen hatte zu arbeiten, habe ich noch mal versucht, über das Sozialamt eine Unterbringung zu bekommen, bin aber wieder an
denselben Sachbearbeitern gescheitert. Das Zimmer habe ich zwar bekommen, aber nur, solange ich den Job hatte.


OFFENE SZENE
Seit Sommer 2021 gibt es in Frankfurt am Main einen ersten Abholpunkt von Arts of the Working Class. Synnika ist ein experimenteller Raum für Praxis und Theorie. Er befindet sich im Erdgeschoss eines kollektiven Wohnhauses, dem NIKA.haus, an der Kreuzung Niddastraße und Karlstraße im Frankfurter Bahnhofsviertel. Seit den späten 1980er-Jahren wird das vornehmlich migrantisch geprägte Bahnhofsviertel in der lokalen und überregionalen Presse regelmäßig als Ort des Schreckens und als Drogensumpf dämonisiert. Heute wird das Straßenbild im Bahnhofsviertel bestimmt durch ein hohes Polizeiaufgebot, Obdachlosigkeit, Armut, Drogen, Prostitution, teure Autos und frisch sanierte Immobilien. Der völlig überhitzte Immobilienmarkt wird im Stadtbild immer präsenter, in Form rapide steigender Mieten, Mietwohnungskündigungen und einer deutlichen Zunahme von Obdachlosigkeit im gesamten Stadtgebiet. Dennoch bleiben die sogenannte offene Drogenszene und ihre sichtbaren Ausläufer die Zielscheibe der medialen Empörung über das Bahnhofsviertel. Die Netzwerke aus User*innen illegalisierter Substanzen werden deshalb „offene“ Drogenszene genannt, weil sie kaum Zugang zu privaten Räumen haben und in ihrem Alltag auf den öffentlichen Raum zurückgreifen müssen. Wie andere Subkulturen
ist diese Szene zunächst mal ein informelles ökonomisches Netzwerk, jenseits regulierter Arbeitsmärkte. Weil es an Wohnraum und finanziellen Mitteln fehlt, weil grundlegende Ansprüche von Sozialämtern nicht anerkannt werden, weil Menschen keine angemessene Arbeit finden oder aufgrund heuchlerischer Drogenverbote kriminalisiert und in ihrem Alltag eingeschränkt werden, ihnen Zugänge, Ressourcen und Unterstützung verwehrt werden, entsteht die „offene Drogenszene“ als eine letzte Ressource dieser Menschen. Die Ursache dieser sogenannten offene Drogenszene im Frankfurter Bahnhofsviertel sind somit nicht vorrangig Drogen, sondern der Mangel an Wohnraum, an sozialer Infrastruktur und an politischer Resonanz – und all dies in einer stark wachsenden Stadt mit zugleich steigendem Gebäudeleerstand.

Am 21.01.2022 eröffnet Arts of the Working Class im Synnika ein Projektbüro, dessen Ziel es ist, eine langfristige lokale Vertriebsstruktur für Frankfurt am Main einzurichten.

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