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SPRICH MIT MIR, GRUNDRECHTE!

Die Grenzen zwischen eigenem Selbst und den anderen werden bei der Künstlerin Anna Witt unter Spannung gesetzt. Oder losgelassen.

  • Sep 18 2020
  • ANNA WITT
    geboren 1981 in Wasserburg am Inn, DE, lebt und arbeitet in Wien, AT

    Ihre zentrale Frage ist, wie gesellschaftliche Konventionen die Subjektbildung beeinflussen. Wie werden wir zu dem, was wir sind? Was wollen wir, was können wir sein? Für ihre performativen Interventionen im öffentlichen Raum involviert sie ausgewählte Personen und Gruppen, die in der Aktion zu Kollaborateur*innen werden.

    Für ihr aktuelles Projekt Sprich mit mir, Grundrechte interviewte Witt 50 Chemnitzer*innen über ihre subjektive Beziehung zu den Grundrechten. Die Arbeit basiert weniger auf statistischen Zahlen und Fakten, sondern auf den Empfindungen und Erfahrungen jeder*s Einzelnen. Gleichzeitig untersucht das Projekt die aktuelle Debatte um die „Verordnung […] zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2“ und deren Auswirkung auf die Zivilgesellschaft. Es greift zugleich den im Juni entbrannten Diskurs auf, den Begriff „Rasse“ aus dem Artikel 3 des Grundgesetzes zu streichen.

    Dafür trat Witt in Dialog mit einem breiten Spektrum von Personen aus unterschiedlichsten sozialen Milieus. Die anschließend anonymisierten Gesprächsprotokolle dienen als Grundlage für eine Leseperformance im öffentlichen Raum. Zu festgelegten Zeiten wird ein*e Performer*in ausgewählte Textauszüge vorlesen. In der Nähe vom Roten Turm wurde dafür ein skulpturaler Begegnungsort als verwinkelter Pavillon aus Acrylglasscheiben installiert, der zugleich eine verbindende und trennende Funktion hat. Zum einen bewirkt das Acrylglas eine distanzierte Wahrnehmung des Gegenübers. Zum anderen gewährleistet die Stellwand die Einhaltung der Hygiene- und Sicherheitsvorkehrungen und ermöglicht somit eine intime Situation, um im direkten Gegenüber einer persönlichen Leseperformance zuzuhören.

In Chemnitz entmachtet die Installation im Park die Konventionen der Subjektbildung in einer empathischen, diskreten Auseinandersetzung mit Passanten und ihren Meinungen über ihre Rechte und Verantwortungen in der heutigen Gesellschaft. Die Dialoge entstanden mit einer heterogenen Gruppe von Menschen aus verschiedensten sozialen Klassen. So basiert “Sprich mit mir, Grundrechte!” weniger auf statistischen Zahlen und Fakten, sondern auf den Empfindungen und Erfahrungen jeder*s Einzelnen.

Gleichzeitig untersucht es die aktuelle Debatte um die COVID-19 Pandemie und deren Auswirkung auf die Gesellschaft. Es greift zugleich den im Juni entbrannten Diskurs auf, den Begriff „Rasse“ aus dem Artikel 3 des Grundgesetzes zu streichen. Die anschließend anonymisierten Gesprächsprotokolle dienen als Grundlage für eine Leseperformance im öffentlichen Raum. 

Für ‘Eurothanasia’ empfinden wir diese Monologe bezeichnend. Sie zeigen die Kluft zwischen Individualisierung und Kollektivierung, intensiviert durch die Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen, die in den unterschiedlichsten Städten Deutschlands ausgeübt werden, sowie durch die Verschwörungsunbehagen und Anti-Corona-Demonstrationen, die daraus entstanden sind, wo Hippies, Rechtsextreme und sonstige Normalos gemeinsam gegen ein ungenaues Unbehagen marschieren. Hier eine kleine Auswahl der anonymisierten Kommentare, welche Witt nach Themen zusammengefasst hat.

 

Karl Marx

Was haben Sie denn für eine Vorstellung von Grundrechten eigentlich? Wir sehen das hier immer am Nischel ganz deutlich, wie Grundrechte kollidieren können. Das [Der Karl-Marx Monument] ist ja quasi der Ort, an dem das alles hochgekocht ist in Chemnitz. Spannend ist, wie dieses Denkmal derart polarisiert, dass diese Straße in regelmäßigen Abständen zur Parade für linke wie rechte Anliegen wird. Du hast hier immer junge Menschen, die aus allen möglichen Ländern kommen. Was natürlich den Leuten hier wiederum nicht passt. Also der AfD-Bürgermeister-Kandidat hat den Teil  da drüben als Klein-Arabien bezeichnet und hat dann im selben Satz gesagt: "Die nehmen unseren Händlern die Kunden weg". Und da merkt man auch, dass es um die Frage geht: wie wird öffentlicher Raum eigentlich besetzt? Was hat das mit Grundrechten zu tun? Hier kann ja jeder machen, was er will. Es stört mich ja nicht, dass die beiden drüben vor dem McDonald’s ihre McDonald’s-Tüte essen. Es interessiert mich auch einen Keks wo die herkommen. 

[...]

Wir haben uns wieder in die Zeit von Karl Marx zurück katapultiert. Also Kapitalismus ungezügelt. Und das hat viel mit der Digitalisierung und natürlich auch mit der Veränderung der Arbeitswelt zu tun. Wem muss ich das erzählen? Du weißt das besser als ich. Das ist ein Modell des Neoliberalismus. Das ist die Selbstausbeutung, die der von Dir verlangt. Und das baut natürlich auch das Verständnis dafür ab, wozu eigentlich Demokratie? Was habe ich denn von Demokratie? Ich geh wählen. Und dann war‘s das. (...)

Mit Marx habe ich mich nach der Wende erst beschäftigt. Und wie heißt dieser eine Satz, der Marx zugeordnet wird? Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit. Das ist ja ein guter Satz, denn es ist wie mit den Verkehrsregeln auch. Ich kann meine Freiheit nutzen, aber ich muss doch allgemeine Regeln befolgen - und das setzt aber wieder gebildete Menschen voraus. (...)

Wie kannst Du Dich frei fühlen? Es gibt keinen Menschen, der wirklich frei ist. Man hat immer irgendwie irgendwelche Pflichten. Ich würde mich frei fühlen, wenn ich irgendwo wäre, muss nicht Berlin sein, wo ich meine Ruhe habe, wo Leute sind, die cool drauf sind und einen nicht als Schwuchtel oder Transe beleidigen. Freiheit hat so viele verschiedene Definitionen.



Wie man sich mit der Freiheit arrangiert

Es gibt sie nicht, die uneingeschränkte Freiheit. Der Bereich, der uns hier natürlich am allermeisten interessiert ist ja Artikel 5 Absatz 3 – die Kunstfreiheit. Und da im Artikel 5.1. ist ja die Meinungsfreiheit erstmal drin, im Absatz 2 wird sozusagen schon mal eingeschränkt gegen was es nicht verstoßen darf und im Absatz 3 kommt sozusagen dann eben die Freiheit von Lehre, Forschung und Kunst. Was sehen Sie denn, was ist für Sie persönlich der Wert der Freiheit der Kunst? Wie würden Sie den definieren? Wie gesagt, jeder hat ja so eine andere Definition. Die Freiheit der Gesellschaft zeigt sich an der Freiheit der Kunst und je extremer oder vielleicht auch radikaler oder je weiter die Grenzen der Kunst sind, desto freier ist eigentlich auch die Gesellschaft. Das sieht man genau an dem Gegenteil, also an der Diktatur. Denn die Kunst ist ja dann das Erste, wo die Freiheit eingeschränkt ist.

Was sind unsere Grundrechte? Alle Menschen sind gleich. Alle Menschen haben dieselben Rechte. Alle Menschen können sich frei äußern, ohne dass sie zensiert werden. Alle Menschen haben das Recht auf Bewegungsfreiheit. Das sind ja unsere Grundrechte. Man darf demokratisch wählen, darf teilnehmen. Da können wir die Gefangenen nehmen, die kein Wahlrecht mehr haben zum Beispiel. Die haben wirklich eine Grundrechtseinschränkung. Aber diese Grundrechtseinschränkung entsteht natürlich durch ihr eigenes Handeln, durch Gesetze, das heißt die sind geregelt. Darüber können wir diskutieren. Menschen, die aber zum Beispiel keinen gesicherten Status in Deutschland haben. Die haben zwar nominell die Rechte, aber die können sie nicht einfordern. Das wichtigste ist, dass ich hierbleiben kann – und einen Anspruch auf Asyl habe. Ein großer Vorteil für mich ist, dass ich die Rechte hier habe, und die selbstverständlich sind, aber als Flüchtling  - es ist immer mit Kampf verbunden, seit Juni letzten Jahres  warte ich auf die Verlängerung für den Aufenthaltstitel – ich arbeite jetzt auf zwei Stellen – kann nicht planen, nach 9 Jahren! Auf eine Erklärung habe ich nämlich das Recht: warum ich nach 9 Jahren hier in Deutschland mich immer noch als Fremder fühle…. Existenzsicherheit habe ich nicht!



Biermann und die Freiheit der Kunst

Die Grundrechte der DDR waren anwendbar, aber ich würde schon sagen, zwei Drittel waren Floskeln. Weil man konnte es anwenden, es hat zwar offiziell keine Berufsverbote gegeben, aber wenn man, wie mit der Ausbürgerung von Biermann sieht, das war für mich in der DDR das einschneidende Erlebnis.  Mit Politik habe ich immer schon, auch durch das Elternhaus, nicht viel am Hut gehabt. Und mit dem Biermann, da ist mir das dann auch richtig aufgegangen, die Ausbürgerung von Biermann. Und da habe ich auch heute noch den Zeitungsartikel, den habe ich mir aufgehoben wer dafür war. Und das habe ich nicht verstanden, warum der nicht wieder in die DDR darf. 

Also der Wolf Biermann hatte ja einen Auftritt in der BRD und durfte dann nicht wieder einreisen. Und daraufhin haben sich viele Kulturschaffende in einem offenen Brief an die Regierung gewandt, dass sie das zurücknehmen sollen das Einreiseverbot und in dem Zuge sind dann viele Kunst- und Kulturschaffende dann auch in die BRD ausgereist und haben einen Antrag gestellt. 

Dieses Grundrecht der Kunstfreiheit, ist eben wirklich elementar, in der Gesellschaft, - dass es diese Denkräume gibt, die keine Begrenzungen haben. Natürlich, großes Thema ist auch Artikel 5, Absatz 3, nicht schrankenlos. Aber es ist trotzdem spannend,denn ich habe das selber hautnah erlebt. Ich war sehr lange in Dresden am Staatsschauspiel. Und wir hatten dort eine Inszenierung Wo ein Weber-Chor von Laien dargestellt wurde, die chorisch auch gesprochen haben und da wurde Sabine Christiansen attackiert als Moderatorin und man hat ihr den Tod gewünscht. Das fand sie nicht so lustig. Hat dagegen geklagt. Wir haben vor Gericht gewonnen, weil das Gericht gesagt hat: das war kein Mordaufruf, sondern es war ganz klar in dem Kontext zu erkennen, dass es Kunst ist. 

Die Kunstfreiheit ist ein so hohes Gut und hat einen so hohen Wert in der Grundrechte-Hierarchie, dass das davon auch gedeckt ist. Wir hatten dann das Pech, dass sie mit der Enkeltochter von Gerhart Hauptmann gut befreundet ist, die über die Rechte verfügt und somit über das Urheberrecht sozusagen. Stöckchen zwischen die Beine geworfen... Aber erst einmal das, worauf ich hinaus wollte - das Grundrecht, die Kunstfreiheit ist schon ein sehr sehr Hohes...

 

Keine Grundrechte ohne Sauerbraten

Auch die Weimarer Republik hatte natürlich bestimmte Grundrechte benannt. Sie wurden nur nicht eingehalten. Das Dritte Reich hatte sogar auch Grundrechte. Die wurden auch nicht eingehalten. Und die Grundrechte, die wir haben, die haben nicht wir erkämpft, sondern sie sind uns in den Schoß gefallen. Nach zwei Weltkriegen, wenn man so will. Deutschland hat nicht für diese Rechte gekämpft.

Die Grundrechte selbst entstammen einer Verfassungsgeschichte, die uns von anderen aufgezwungen wurde. Und die hat man uns verkauft mit Wohlstand. Sonst hätten wir sie nicht genommen nach 1945. Es ist ja nicht so, dass nach 1945 oder 1944 in Deutschland die Menschen auf die Straße gegangen wären, gesagt hätten: So, mit Hitler soll es vorbei sein, wir wollen die Demokratie, wir wollen Grundrechte. 

Hat die Menschen einen Scheiß interessiert, wenn wir mal ganz ehrlich sind. Ja, wenn Demokratie gleich gutes Leben heißt, dann machen wir das. Die Grundrechte sind ja mit dem dicken Sauerbraten am Wochenende verbunden. Die sind aber nicht mit mir als Mensch und meinen unveräußerlichen Rechten verbunden. Dass man mit dem System – und da trennt man glaub ich nicht zwischen Wirtschaftssystem, Kapitalismus und dem Rechtssystem – weil das natürlich sozusagen gemeinsam rübergekommen ist, was man damit verbindet: es ist eben nicht allen bessergegangen, oder den allermeisten, sondern es ist bei vielen auch leider ganz anders geworden. Und da wurde dann ja auch viel versprochen... und viele Erwartungen sind einfach nicht gehalten worden und man denkt ja, dass das mit den Jahren irgendwie abflachen müsste - tut´s aber nicht und ich hab manchmal das Gefühl dass das auch in den Familien weitergetragen wird.

[...]

Natürlich wars zu DDR Zeiten, oder danach zu Wendezeiten dann schwieriger. Klar – viele wollten sozusagen den Westen – aber was wollten sie? Sie wollten die Reisefreiheit haben, sie wollten im besten Falle die DM haben. Aber das ging alles – zum einen rasend schnell, es führte natürlich zu unglaublich vielen Verwerfungen, und – das ist das was glaube ich in den Köpfen jetzt verbunden  ist mit dem sogenannten Anschluss an Westdeutschland: Dass er in Verbindung gebracht wird mit einem radikalen Abbau von Industrie, von Arbeitsplätzen.

Chemnitz ist ein extrem gutes, oder schlechtes Beispiel, je nachdem wie man's sehen will: hier sind ja 70/80 Tausend Menschen nach der Wende in wenigen Jahren weggegangen, 50-Tausend Arbeitsplätze in zwei, drei Jahren, die ganzen großen Kombinate, das können wir uns gar nicht vorstellen, was das eigentlich bedeuten

muss für die Leute. 

 

Der Mensch als solcher hat keine Lobby 

Freie Berufswahl, Bildung allgemein. Wenn ich überlege, wie es früher zu DDR-Zeiten war, dass es ja doch relativ vorgegeben und eingeschränkt war und dass ich heute jede Möglichkeit habe, finde ich das schon spannend. Also dass du selbst mit 40/50 auch sagen kannst „ich studiere nochmal“ oder „ich mache einen anderen Beruf“ oder „ich habe was gelernt und mache jetzt was ganz was Anderes“ – also das finde ich schon heutzutage gut, dass man das Recht hat sich selber da was auszusuchen.

Früher haben die Männer gemacht, was ich gesagt habe.

Dass im Westen Frauen und Männer gleich sind, das war ja gar nicht so. Das musste ständig erkämpft werden. Da muss ich jetzt sagen, das war in der DDR anders. Z.B. habe ich mehr verdient wie mein Mann. Mein Mann war auf dem Bau und ich hab in der DDR drei Schichten in der Textilindustrie gearbeitet. Hab dort das Fernstudium gemacht nebenbei. Und hab dann einen Textilingenieur gemacht. 

Da gab es nie die Frage “Wer macht was.“  Die Männer haben gemacht was ich gesagt habe, genauso wie die Frauen. Also da gab es eine Gehaltsgruppe und die habe ich gekriegt. Und jetzt müssen wir uns das wieder erkämpfen. Das Rad wird zurück gedreht. Und das war eigentlich mein Anlass in der Gewerkschaft aktiv zu sein, weil ich gesagt hab: Wir hatten das ja schon mal. Also dass das Recht auf Gleichbehandlung. Wir haben heute so eine Stimmung: Frauen wieder in die Küche, so ungefähr. Schon vorher und durch den Lockdown noch mehr. Gerade wenn sie da die Mutter, die arbeiten soll unter Umständen, haben die Kinder zu beschulen. Und für die Familie müssen sie auch noch aufkommen im Sinne von Essen und sowas.  

Wie gesagt, für mich war es eine Selbstverständlichkeit. Ich bin so aufgewachsen. Ich bin ‘52 geboren. Also noch in Chemnitz. Dann wurde das Karl-Marx Stadt. Und jetzt lebe ich wieder in Chemnitz. Und das ist wie gesagt… Jungs und Mädels: gleich.



Die da Oben und wir im Privaten

Aber die Meinungsfreiheit ist für jeden da. Man kann ja nicht sagen: Du darfst dich jetzt nicht auf die Grundrechte beziehen. Das ist eine sehr geschickte Narration, die da bedient wird. Weil sie sagen, sie dürfen nicht alles sagen. Das Recht auf Meinungsfreiheit wird unterhöhlt. Weil es auf der Diffamierung von anderen aufbaut. Also sie scheinen ja dann doch nicht für alle zu gelten. Also es gibt da einen ganz großen Diskurs darum, für wen die eben gerade nicht gelten. Ich finde das total richtig, Dinge in Frage zu stellen. Und das ist bestimmt auch nochmal stärker in einem ostdeutschen Kontext, in dem man einfach gewohnt ist die Dinge, die in gewisser Weise von Oben, was jetzt nicht mehr nur Oben ist, sondern eine gewählte Demokratie, dass man das in Frage stellt. Es macht so eine Grundhaltung; die da Oben und wir im Privaten. Also merkt man ja auch jetzt bei den rechten Gruppierungen sind viele dabei die ‘89 auch auf der Straße waren. Und da sehe ich schon so eine Kontinuität. 

[...]

Irgendwo gibt es wahrscheinlich bei solchen Mechanismen, eine Art kritische Masse.  Wissen Sie, in der Wendezeit, es ging ja nicht 1989 los, das ist ja nicht so, das ging ja viel früher los, nur dass sich diese Öko-Gruppen und die Unzufriedenen mit dem Regime in der DDR natürlich erstmal versucht haben, in relativ geschützten Räumen miteinander zu treffen. Also in den Kirchen, zum Beispiel, in den Umweltbibliotheken. Aber es kamen offensichtlich immer mehr Menschen dazu, die der gleichen Meinung waren, bis das irgendwo das Gefühl hatte, das war ja schon eine Revolution, eine unblutige Revolution. 

Das man schon das Gefühl hatte, jetzt ist es Zeit auch auf die Straße zu gehen und ich selber gebe das offen und ehrlich zu, ich war kein Widerstandskämpfer, aber ich war auch mit vielen Dingen unzufrieden. Ich habe diesen letzten Schritt, mich zu engagieren nicht gemacht. Da gibt es persönliche Gründe, das ist ja jedem sein Leben. Und ich ziehe den Hut vor denen, die das gemacht haben, weil die natürlich nicht wissen konnten, wie der Staat reagiert. Der Staat hätte auch mit Maschinengewehren reagieren können. Und es stand auf der Kippe, das weiß ja jeder. Also, insofern braucht es eine kritische Masse.

[...]

Wenn man in der DDR aufgewachsen ist, hat man schon so eine Art, Zwiespältigkeit gehabt. Was ich in der Schule sage, was ich draußen äußere und was ich zu Hause sage. Und ich komme aus einem evangelisch-lutherischen Haushalt und  gut, man ist als Kind aufgewachsen, aber ich wurde als Kind immer angehalten: Pass auf was du sagst! Und das musst du nicht in der Schule sagen… Aber in der Verfassung stand ja die Meinungsfreiheit…?!

Meine Eltern haben sich nicht um die Verfassung gekümmert und ich sag mal, das ist das tägliche Leben. 

 

Angst vor Chemnitz

Aber Meinungsfreiheit schützt ja auch mein Gegenüber. Nämlich davor, dass ich meine Meinung dem Gegenüber aufzwinge. Die meisten, mit denen Du redest und mit denen ich rede, die waren nie in der DDR. Sie sind hier im Westen, also im demokratischen System, groß geworden. Trotzdem haben Sie das noch nicht Verinnerlicht. Und das ist ja ganz spannend, dass gerade die jüngeren Menschen plötzlich anfangen, das wieder zu heraufzubeschwören, dieses Gefühl von Unterdrückt sein. Man könnte fast sagen es geht immer nur um Affekte, um Gefühle, um Emotion. Angst ist ja auch nichts Anderes.

[...]

Ich weiß nicht, was man Dir über Chemnitz erzählt hat. Mir erzählen ganz viele Leute, die zum ersten Mal herkommen, dass sie Angst haben vor Chemnitz. Chemnitz hat einen sehr schlechten Ruf. Den hat es sicherlich nicht zu Unrecht. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sagen, Chemnitz wird zu schlecht behandelt. Aber Chemnitz hat nicht nur diese schlechten Seiten. Und wenn man genau hinschaut, dann kann man sich hier nicht bedroht fühlen.

Aber Chemnitz ist natürlich ein vermintes Gelände. Du kannst relativ schnell in Konfliktlinien reingezogen werden, die Du eigentlich gar nicht bedienen willst. Und da reicht es schon aus, dass man Dich mit der einen oder der anderen Seite in Verbindung bringt. Ein hoher Grad an Polarisierung. Ich glaube eher, dass das hier das letzte Aufbäumen, um es mit Matthias Krenn zu sagen, das letzte Aufbäumen der Faschisten ist.

 

Arbeitslos gehört bei uns zum Lebenslauf

Diese Radikalisierung - es ist doch jetzt ein schönes Leben gewesen auch nach der Wende. Gut, viele waren dann auch arbeitslos, ich hatte das Glück, ich hatte immer meine Arbeit, aber es ging allen sehr gut hier in Europa, in Deutschland und warum muss ich meine Freiheit, die ich habe, so verspielen? Warum? 

[...]

Ich war lange arbeitslos. Bei uns gehört es - wie sagt man so schön - zum Lebenslauf. Und dann war ich im außerbetrieblicher Gewerkschaftsarbeit, dann wieder arbeitslos und dann Rentner. Und wie gesagt, immer wieder die Unterstützung zusagen: Macht macht... Wir waren bei Tarifverhandlungen und so. Warnstreiks, immer mit dabei.

[...]

Ich war aktives Gewerkschaftsmitglied und bin dann dort ausgetreten. Aus dem einfachen Grund: 2015, als diese Massen uns überschwemmt haben hier. Diese Migrationsgeschichte. Da hab ich mir doch mal erlaubt zu sagen: Also ich weiss nicht, ob das alles Verfolgte sind? Wir haben ja hier eine Erstaufnahmeeinrichtung gehabt. Und da stand dann eben einer auf und hat mich fertig gemacht, in der Gewerkschaftsversammlung. Und keiner hat was dazu gesagt. Und dann hab ich

gesagt: “Wisst ihr: Wenn ich meine Meinung hier nicht sagen darf, ist es ja 

schlimmer wie zu DDR-Zeiten.” 

Ich hätte ja mit dem diskutiert… Aber das ist ein Totschlagargument:

Rechts. Da bist du Rechts. Und das möchte ich nicht. 

Das hör ich wirklich häufiger so. Also “es gibt nicht mehr die Möglichkeit alles zu sagen.” Und das sehe ich ganz anders und da denke ich : Gerade erkennt ihr nicht wo euer demokratischer Spielraum ist. Was uns hier eigentlich fehlt, sind Gewerkschaften. 

Es gibt keine traditionell gewachsenen Gewerkschaftsstrukturen, wo Du als junger Mensch aktiv wirst. Du hast kleine Ortsvereine. Du hast wenig große Organisationen, die viel bewirken können. Das fehlt. Und dieses Feld was da fehlt, das fehlt natürlich auch in der Mobilisierung jener Menschen, die schweigen. Du hast hier einen relativ großen Anteil an Menschen, die sich nicht äußern. Sie schweigen. Jetzt gerade gibt es auch Schweigemärsche. 

 

Meinungsfreiheit

Sachsen ist meisten dafür bekannt, weil hier so viele AfD Wähler leben. Und ich habe auch sehr viele Freunde in Berlin. Da kriege ich immer die Frage: "Bist du eigentlich AfD Wähler?" Weil Du ja aus Chemnitz bist? Ich komme aus Annaberg-Buchholz, das ist hier in der Nähe. Aber sie nennen mich immer Nazi. Und ich denke: "Junge, sei doch einfach ruhig!" Ich habe so einen Hass!

[...]

Wir sprechen immer von Solidarität. Das ist eine sehr selektive Solidarität. In dem Fall würde ich vielleicht von selektiven Grundrechten sprechen. Grundrechte gelten immer nur für mich und meine Gruppe. Für die anderen gelten die nämlich nicht. Und das lässt sich sehr schön beobachten. Auf Demonstrationszügen beispielsweise. Wir haben das Demonstrationsrecht, wir wollen marschieren. Ja, das wollen die anderen auch. Aber die anderen haben keinen legitimen Grund. Und schon werden die Grundrechte selektiv auf mich bezogen, aber nicht auf den anderen. Das, was als Zensur empfunden wird, ist der Widerspruch. Und den Widerspruch können Sie nicht aushalten. 

[...]

Vielleicht hätte man ein Grundrecht auf Diskurs verankern sollen. Das ist ja das eigentlich das Zentrale, wenn wir uns ein Grundrecht überlegen, ist es die Möglichkeit der Partizipation für alle. Grundrechte werden immer noch stark nationalisiert, bis hin zu völkisch gedacht. Und das bricht langsam auf. Aber eben in einer Geschwindigkeit, dass man daran verzweifeln könnte. Die Globalisierung ist schneller als die Fähigkeit, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen. 



Antifa, Kirche, Verein

Wenn man hier etwas antifaschistisch nennt, kommt natürlich gerade bei älteren Menschen die Assoziation auf DDR. Da war es Staatsräson. Ich finde aber, dass dieser verstaatlichte Antifaschismus noch eine ganz andere Form von Nachwirkungen hat. Nämlich, dass es keinen wirklichen Antifaschismus zu DDR-Zeit gab. Man hat Faschismus externalisiert, indem man ihn nach Westdeutschland exportiert hat und gesagt hat "Wir müssen uns damit nicht beschäftigen". Die Kirchen sind hier marginalisierte Minderheiten. Die ehemalige DDR ist das atheistischste Land der Welt. Aber worauf ich kommen wollte - es fehlen die Strukturen. Letztendlich fehlt hier die Zivilgesellschaft. 

[...]

Am 02.09. spielt Chemnitz gegen Babelsberg, Babelsberg ist offenkundig links und macht auch mit der Antifa gewisse Dinge und uns wird halt das Rechte nachgesagt, was von den 5000 Leuten vielleicht 200 betrifft, aber ob die das wirklich sind, sei ja auch mal dahingestellt. Das sind dann halt solche Sticheleien, die dann mit Transparenten passieren könnten.

Das sind nur einige Vereine, Babelsberg zum Beispiel, TB Berlin die links sind. Aber rechte Vereine, um das mal umzudrehen, gibt´s nicht. Es gibt halt immer Vereine, denen es nachgesagt wird…also Chemnitz, Cottbus. Es gab ja am 09.03. letztes Jahr in Chemnitz den Vorfall, weißt du nicht?

Wo im Stadion eine Trauerfeier für einen Fan gemacht wurde, der aber halt eine Vergangenheit hat, die schon in die rechte Szene hineinspielt. Also da wurde eine Trauerfeier im Stadion für einen Fan, für einen Menschen abgehalten und es wurde dann aufgrund seiner Vergangenheit halt so transportiert von den Medien, dass war ein Nazi und alle die jetzt dort drinnen waren und geschwiegen haben diese 1 Minute lang, sind alle Nazis. Es geht immer nur um Rechts oder Links. Klar kann ich als Jugendlicher

mal was dahinsagen. Also wenn der mal eine Rechte Parole hatte. Aber deswegen muss es ja kein schlechter Mensch sein. Weil er mal was nachredet. Oder er hat eine schlechte Erfahrung gemacht, oder wie auch immer. Und ganz links... Naja die sind mir fast noch Unheimlicher, weil das die sind, die früher hier dunkelrot waren. Und die sind ja auch oftmals über Leichen gegangen. So ein junger Mensch muss sich ja erst einmal, wenn er sich dafür interessiert mit den Dingen auseinandersetzen. Und das Recht sollte der auch haben, auch mal eine Meinung zu haben, die nicht konform ist.

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Jeden Mittwoch bis Sonntag, 15–18 Uhr, finden die Leseperformances statt.



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