Das Zeitempfinden im Werk, Denken und Handeln der Künstlerin Bracha Lichtenberg Ettinger, auch bekannt als BRACHA, ist ein besonderes. Viele ihrer Gemälde entstehen über Jahre, manchmal über Jahrzehnte hinweg und offenbaren sich allmählich – durch Übermalung, Auslöschung und Wiederauftauchen.
In BRACHAs Kunst wird Malerei zu “Carriance”, zur Praxis des “Fürtragens”: Verletzlichkeit wird nicht bloß dargestellt, sondern mitgetragen und verwandelt. Der Begriff “Carriance” – ein von BRACHA geprägter Neologismus – beschreibt ein ethisches und affektives Mit- oder Fürtragen eines Anderen in sich, ohne ihn zu vereinnahmen oder zu verlieren. Es ist eine Form der Fürsorge und Verantwortlichkeit jenseits jeder Aneignung.
Diese Praxis durchzieht BRACHAs gesamtes Werk: Eine Malerei, die Erinnerung nicht abbildet, sondern trägt. Eine Malerei, die nicht beansprucht für jemanden zu sprechen, sondern mit ihm*ihr zu atmen. “Carriance” verweigert das Vergessen und bleibt dennoch offen für Veränderung, wie eine Langzeitbelichtung des Inneren. In BRACHA’s Malerei zeigt sich das in überlagerten Details und fragmentarischen Spuren, die sich nicht festschreiben lassen. Das Bild wird zum Gedächtnisraum – offen, schichtig, in Bewegung.
Fig. 1
Auch BRACHAs Namen erzählen von Überlagerungen: Lichtenberg, der Name, den ihre Vorfahren in Deutschland vom Herzog von Lichtenberg nach der Vertreibung aus Spanien erhielten; Ettinger, der Name ihres ersten Ehemanns.
Mit 33 Jahren – nach einem Zusammenbruch in Tel Aviv und einer Karriere als leitende klinische Psychologin – entschied sie sich, Künstlerin zu werden. Und wie viele, die beschließen, Künstler*in zu werden, zog sie nach Paris. Ein Jahrzehnt später begann sie, ihre Theorie des “Matrixialen” zu veröffentlichen: eine weibliche Alternative zur klassischen, auf phallischen Strukturen basierenden freudianischen Subjektbildung. Bereits Anfang der 1980er Jahre tauchte der Begriff in ihren Notizbüchern auf. Öffentlich erwähnt wurde er 1989 im Gespräch mit Christian Boltanski – ebenfalls ein in Paris lebender Künstler, dessen Werk sich mit Holocaust-Erinnerung auseinandersetzt.
BRACHA hörte nie auf, als Psychologin zu arbeiten. Ihre Auseinandersetzungen mit Psyche, Gewalt, Erinnerung und Trauma durchziehen auch ihr künstlerisches Schaffen. Theorie und Malerei entstehen bei ihr nicht nacheinander, sondern miteinander. Man kann ihre Essays lesen, man kann ihre Bilder betrachten – doch das eine existiert nicht ohne das andere. Ihre Sprache ist Malerei. Ihre Malerei ist Theorie.
Fig. 2
„In gewisser Weise kommt BRACHA zu einer Form des Schreibens, die selbst Malerei ist“, sagt Carolyn Christov-Bakargiev, langjährige Wegbegleiterin der Künstlerin. Wie Lacan in seiner späten Phase – unfähig zu schreiben, zu sprechen, aber fähig zu zeichnen – verwebt BRACHA Denken, Bild und Form. Die borromäischen Knoten, Lacans Symbol für das fragile Zusammenspiel von Realem, Imaginärem und Symbolischem, lassen sich bei ihr in Linien, Lasuren und Wiederholungen wiederfinden.
Bei dieser Verdichtung von Schichten, in denen sich Malerei, Schreiben und Existenz übereinander legen, stellt sich die Frage erneut: Was bedeutet es, wenn Kunst nicht mehr Darstellung von Politiken, sondern eine “Koexistenz” von Wissen, Gefühl und Imagination widerspiegelt? Wenn sie nicht abbildet, sondern fürträgt?
Das „Matrixiale“ des “Fürtragens” ist eine Einladung, die Kunstgeschichte neu zu schreiben – von einer anderen Seite anzugehen: nicht aus dem Mangel, sondern aus dem Mitsein. BRACHA identifizierte die phallischen Vorannahmen und unausgesprochenen Axiome in den Arbeiten von Freud und Lacan – und kehrte sie um. Mit dem „matrixialen Blick“ schlug sie eine neue Theorie der Subjektivierung vor, die sich im Verweben von Figuren in der Malerei selbst entfaltet. Matrix bedeutet Uterus auf Lateinisch. Während bei Freud und Lacan die Subjektivität aus einem grundsätzlichen Mangel hervorgeht – dem Verlust des begehrten Objekts, der Trennung von der Mutter bei der Geburt – verortet BRACHA den Ursprung des Selbst im pränatalen Mit-Entstehen von Ich und Anderem: eine dichte Schichtung geteilter Geschichten.
Dies ist auch ein zentrales Argument von Carolyn Christov-Bakargiev – eine der präzisesten Leser*innen von BRACHAs Werk – und von grundlegender Bedeutung für unser Verständnis von Bildlichkeit im 21. Jahrhundert.
Fig. 3
Schon in ihren frühen Arbeiten thematisierte BRACHA die ethischen Dimensionen technischer Reproduzierbarkeit. Ihre autodidaktisch entwickelte Technik der suspendierten Fotokopie – das Öffnen des Kopiergeräts während der Belichtung – durchkreuzt die Mechanik der Reproduktion und unterläuft die Fixierung. Das unvollständige Bild wird mit Tusche und Toner weitergeführt. Christov-Bakargiev beschreibt diese Methode so:
The photocopy machine captures an already positive photographic printed image of a person, fixes it, and memorialises it by its repetition. BRACHA’s art is an art of healing, based on a subversion and usage/breakage of the technology in our modern world. Because of the risk of banalization, few art historians have dared to obliquely suggest such an obvious, but too literal, link between BRACHA’s technique of suspended photocopying and a symbolic suspension of the Holocaust.
Diese halbfertigen, offenen Fotokopien sprechen von Tod und Gewalt – aber vor allem vom Schutz der Verletzlichsten. Die Subjekte, die durch die bemalten Schichten auftauchen, werden nie zur bloßen Form, nie zum Opfer einer Abstraktion, die Empathie, Mitgefühl oder “Mitzeug*innenschaft” in den Rezipient*innen überdecken.
Die Gemälde zeigen Spuren von Fotokopien – Luftaufnahmen des Berliner Olympiastadions vor dem Zweiten Weltkrieg und frühe Aufnahmen aus der Luft über Palästina, aufgenommen 1917 von Piloten des Deutschen Reiches. Obwohl Palästina damals formal noch zum Osmanischen Reich gehörte, stand es seit Dezember 1917 unter britischer Militärbesatzung. Der deutsche Blick auf Palästina spiegelt eine europäische koloniale Realität – vor der Shoah, vor der Gründung des Staates Israel, dessen Notwendigkeit gerade aus der Shoah hervorging. Diese Motive durchlaufen in BRACHA’s Werk einen zunehmend metamorphischen Prozess: Sie verlieren ihre vermeintliche Objektivität, werden durchlässig und affektiv aufgeladen.
Fig. 4
Auf die Frage, ob diese Bilder eine Reaktion auf die Bombardierungen in Gaza seien, antwortete BRACHA, dass sie Prozesse öffne, die weit älter und doch mit dem heutigen Leiden der Menschen vor Ort verbunden seien. Die Tragödie im Nahen Osten brauche nicht noch mehr Ausdruck von Hass, sondern Mitgefühl. Und gerade dieses Mitgefühl verlange nach einer anderen Sprache als der Ideologie, die uns bisher nicht weitergebracht hat. Sie male, um Mitgefühl erfahrbar zu machen – jenseits von identitärer Kategorisierung, jenseits des Sagbaren und des Unsagbaren.
Solche Übergängen und Verwischungen finden sich auch in ihrer Farbwahl, die sich an den Rändern des Sichtbaren bewegt. Die Palette reicht von Violett über Rot bis Schwarz, mit Weiß und Blau als Zonen des Lichts – Farben an der Grenze elektromagnetischer Wellen, die unser Sehsystem gerade noch erfassen kann. Unsere Retina reagiert unterschiedlich auf diese Randbereiche – Ultraviolett und Infrarot markieren den Übergang von Sichtbarkeit zu Unsichtbarkeit.
An dieser Schwelle der Abstraktion arbeitet BRACHA: Dort, wo Wahrnehmung flimmert, Formen verschwimmen, wo Erinnerung, Schmerz und Heilung sich überlagern. Farbe wird hier nicht nur aufgetragen, sondern durchlebt – als Strahlung, als energetische und emotionale Spur. In BRACHAs “matrixialem Blick” ist Kunst keine Darstellung, sondern „Mit-Zeugenschaft“ – eine Teilhabe an etwas, das uns nie ganz gehört. An der Erfahrung eines Anderen, an Verletzbarkeit, am Entstehen eines Selbst im Mitsein.
Fig. 5
Historisch erinnert das an eine Verschiebung: Zur Zeit des Buchdrucks waren Bibeln prothetische Technologien kollektiven Gedächtnisses – vergleichbar mit heutigen Smartphones. Die Andachtsmalerei hingegen war ein Medium der Transzendenz: eine Berührungsfläche zwischen Körper und Kosmos, zwischen Intimität und Unendlichkeit.
In dieser Tradition steht auch BRACHAs Werk: ein visuelles und synästhetisches Objekt, das nicht nur das Sehen, sondern auch das Fühlen aktiviert. Eine Kunst, die sich in Berührung übersetzt.
BRACHAs Bilder gleichen Röntgenaufnahmen einer Schwangerschaft – sie zeigen, dass Menschen aus Interdependenzen entstehen. Im Gegensatz zu Freuds Vorstellung, das Subjekt sei Produkt von Trennung und Mangel, begreift BRACHA Subjektwerdung als “Mit-Entstehen”, das bereits im Mutterleib beginnt. (Wichtig: BRACHA schreibt bewusst weibliche Erfahrung zu, ohne dabei den gebärenden Körper auf ein binäres Geschlechtersystem zu reduzieren.)
One of the photographic sources for Bracha’s works that is never mentioned in essays about her art is ultrasound imaging, the sonogram which performs exactly this: transporting sound waves into visuality through echo-grams, where only the most expert medical gaze can read as body parts the shapes and forms of an unborn child, a pulsating, moving tiny body in amniotic liquid. The body turns, moves, listens and sees through movement and soundscape. Visually, sonograms seem similar to trying to photograph distant cosmic things such as galaxies, or cosmic radiation from millions of years ago. Here the figure-abstract, the abstract figure, represents one “co-poietic” impulse, unformed, impressionistic, provisional, liquid, co-emergent “transsubjective” amoebic subjects, perhaps the kernels or core of why it is worth being alive in “metramorphic” womb-being.
Fig. 6
Im “matrixialen” Raum teilen das Noch-Nicht-Kind und die Noch-Nicht-Mutter einen Grenzbereich der Wahrnehmung, in dem beide zugleich Subjekt und Andere*r sind – ohne sich vollständig zu erkennen oder zu trennen. Nach BRACHA sind wir alle partielle Subjekte, bestehend aus entstehenden Ichs und Nicht-Ichs, in einem gemeinsamen, hybriden Raum: einem „unreinen Objekt A“. Das Ich entsteht nicht durch Abgrenzung vom Anderen, sondern durch Berührung mit ihm:
So that BRACHA’s painting is not only the painting of memory traces, but mainly it is an attempt to pre-figure, just like when we reach, half blindly, into the womb for ultrasound signals. The m(Other) receives intimations of the prenatal subject, while the prenatal subject listens to signals from outside the womb. The ultrasound resists imaging technologies while it uses them in duration. This is what painting the emergent, and co-emerging with painting, means, an augural form of painting, an auroral painting. Bracha co-emerges with her paintings, with our paintings.
Diese offene Form der Hermeneutik spiegelt sich in BRACHAs Bildern: keine festen Konturen, sondern überlagerte Zonen der “Carriance” – Röntgenbilder, Malerei, Skizzen, Notizen, Theorie und Affekt verwoben. Die Matrix ist dabei kein Symbol für eine Rückkehr zur Mutter, sondern ein Denkraum für eine radikal andere Erfahrung von Subjektivität, „Empathie-in-Mitgefühl“ und Zeug*innenschaft – eine Ethik des Mitseins.
Fig. 7
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- Image credits
Cover: Bracha L. Ettinger, Annucion, Birthing and a Girl, 2013-2023. Courtesy of the artist. Photo Ran Erde
Fig. 1: Bracha L. Ettinger, Angel of Carriance - Halala n.4, 2017-2023. Courtesy of the artist. Photo: Inon Khalfon
Fig. 2: Bracha L. Ettinger, Angel of Carriance - Eros, 2015-2020. Courtesy of the artist. Photo: Ran Erde
Fig. 3: Bracha L. Ettinger, Halala-Kaddish-Pieta n.7, 2017-2024. Courtesy of the artist. Photo: Ran Erde.
Fig. 4: Bracha L. Ettinger, Eurydice (series), 2013-2023. Courtesy of the artist.
Fig. 5: Bracha L. Ettinger, Angel of Carriance-Halala n.3, 2017-2024. Courtesy of the artist. Photo Ran Erde
Fig. 6: Bracha L. Ettinger, Eurydice - Halala n.3, 2017-2023. Courtesy of the artist.
Fig. 7: Bracha L. Ettinger, Halala Series, 2018. Courtesy of the artist.