بين تذكُّرِ أَوَّلها
ونسيانِ آخرِها
Bei der Belagerung wird das Leben zu der Zeit,
die zwischen dem Erinnern seines Beginns
Und dem Vergessen seines Endes liegt
(Mahmoud Darwish)
Zwischen 2014 und 2018 besuchte die Verfasserin im Rahmen einer raumsoziologischen Forschung regelmäßig das palästinensische Flüchtlingscamp Shatila in der libanesischen Hauptstadt Beirut. Berührt von der räumlichen, politischen und gesellschaftlichen Intensität Beiruts und der maximalen Verdichtung im Camp, beschäftigte sie sich mit dem unregulierten Bauen in Extremsituationen und deren gesellschaftlichen Auswirkungen. Nachhaltig geprägt von der Resilienz der dort lebenden Menschen.
Das Camp Shatila am südlichen Stadtrand Beiruts wurde 1949 für Flüchtlinge aus den nördlichen palästinensischen Gebieten errichtet. Es ist ein Ort der konstituierten Sichtbarkeit gesellschaftspolitischen Scheiterns und beschreibt einen Ausnahmezustand, der in seiner Verstetigung unfreiwillig zu einem Gegenspieler einer vermeintlichen politischen Normalität geworden ist. In seiner metaphorischen und politischen Ausdehnung befindet sich das Camp in einer Zone der Ungewissheit, in der das Recht auf Leben auf dem Spiel steht und die Aussetzung von Zeit und Alltag das Leben der Bewohner bestimmt.
Eingebettet in das architektonisch sehr dichte Konglomerat, das Beirut darstellt, verschmilzt Shatila aus der Vogelperspektive mit dem Häusermeer der Stadt. Geopolitisch ist sie durch eine Vielzahl von Gruppeninteressen zerrissen und überfordert von der eigenen Geschichte und Politik. Vermeintlich in das Stadtgefüge integriert, hat Shatila – stellvertretend für viele Camps im Libanon – einen langen Weg der systematischen Ausgrenzung hinter sich. Nach der Nakba erlaubte die libanesische Regierung den informellen Siedlungsbau durch palästinensische Geflüchtete, war aber schon bald aufgrund nationaler und internationaler Spannungen nicht mehr fähig, angemessen auf die hohe Anzahl der Neuankömmlinge zu reagieren. Obwohl die Camps geduldet wurden, verweigerte die christliche Regierungsmacht im Land den überwiegend muslimischen Palästinensern auf vielfältige Weise staatliche, gesellschaftliche und geografische Zugehörigkeiten. Aus Angst vor einer zahlenmäßigen Übermacht auf konfessioneller Ebene verwehrte man ihnen den Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Arbeit genauso wie die staatliche Zugehörigkeit. Die Erweiterung der Siedlungsgrenzen wurde untersagt, was den temporären Charakter der Lager betonte und das Prinzip der Abschottung weiter verdeutlichte. Besiegelt wurde beides mit dem Kairoer Abkommen von 1969, das den Palästinensern etwa eine autonome Regelung ihrer Angelegenheiten und die Selbstverwaltung zusicherte. Das wiederum veranlasste den Libanon dazu, sich vollständig aus der Verantwortung für die palästinensischen Flüchtlingscamps zurückzuziehen.
fig. 1
So verwandelten sich die einst temporären Siedlungen in sichtbare Heterotopien, aus dem ursprünglichen Ausnahmezustand wurde eine mittlerweile seit Jahrzehnten währende Dauerhaftigkeit.
Shatila zeichnet sich durch seine geographische Einbettung in das städtische Umfeld aus, was das Paradoxon der Segregation nur unterstreicht. Die Grenzen des Camps sind unkontrolliert, veranschaulichen aber auf verschiedenen Ebenen die jahrzehntelange Trennung zwischen Staatenlosen und Staatsbürgern. Durch das stetige Bevölkerungswachstum werden die immer höher werdenden Gebäude zu einem auffälligen strukturellen Merkmal des Lagers: Sie verleihen der Kontur Shatilas eine kraftvolle materielle Form und dienen als Symbol für den Drang nach Freiheit inmitten räumlicher Enge. Sichtbar wird eine eindrucksvolle Schwelle, die seit Generationen unverändert und in ihrer Ausdehnung bis heute unverhandelbar geblieben ist. Sie verkörpert jedoch nicht nur die äußere Ablehnung, sondern spiegelt auch die innere Einheit und Verbundenheit der Bewohner wider. Zahlreiche Nationalflaggen, Banner und Plakate mit Darstellungen palästinensischer Freiheitskämpfer dienen sowohl der Versicherung der nationalen Identität als auch als Zeichen einer von innen bestimmten Abgrenzung gegenüber der Umgebung.
Die bis zu achtstöckigen Gebäude drängen sich gegeneinander und verengen die bereits schmalen Korridore immer weiter. Ein verborgener Hof, eingebettet im Labyrinth des Camps, ist der einzige Raum, der ungehinderte, nicht durch die Architektur bestimmte Bewegungen erlaubt. Er dient als täglicher Treffpunkt und bietet Platz für kulturelle, politische und religiöse Veranstaltungen. Innerhalb des Lagers spielt er eine kulturelle und identitätsstiftende Rolle und stellt einen integralen Bestandteil der demokratischen Struktur dar. Als Metapher für das gesamte Camp vereint dieser Freiraum die Vitalität des Lebens im Kampf gegen die auferlegte Begrenzung. In Bezug auf den Verlust an Raum, Land und Identität fungiert er zugleich als Spiegel und Resonanzkörper.
An keinem Ort treffen das Gesagte und das Sichtbare so prägnant aufeinander wie in diesem innerstädtischen Lager. Vor langer Zeit erlassene Dekrete führten zu einer politischen Ausgrenzung, die sich über Jahrzehnte in ebenso radikalen wie sichtbaren Formen der Isolation manifestierte. Seit der Syrienkrise ist die Einwohnerschaft seit 2011 noch einmal deutlich gewachsen. Etwa 20.000 Menschen leben in Shatila auf einer Fläche von weniger als einem Quadratkilometer. Die Zahl der Einwohner ist eine Schätzung der Camp-Verwaltung; aufgrund der erwähnten Angst vor der Anerkennung der muslimischen Mehrheit gab es bereits seit 1923 keine offizielle Zählung mehr. So bäumt sich ein emanzipatorischer Raum gegen unzählige Ungerechtigkeiten auf – und ist gleichzeitig deren deutlichste forensische Evidenz.
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- IMAGE CREDITS
Cover: Makro: Bjørnar Skaar Haveland, Shatila (2017) © and courtesy of the artist.
fig. 1: Alesa Mustar. Courtyard (2017) © and courtesy of the artist.