Arts Of The Working Class Logo

Die “Migrationskarawane” im Kontext von imperialer Plünderung und Enteignung verstehen

  • Mar 26 2024
  • Ariella Aïsha Azoulay
    ist Autorin, Kuratorin, Filmemacherin und Theoretikerin in Fotografie und visueller Kultur.

    Sie ist Professorin für Moderne Kultur und Medien sowie für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Brown University und freischaffende Kuratorin für Archive und Ausstellungen.

Die in europäischen Museen aufbewahrten Artefakte sind nicht nur exemplarische Meisterwerke, sondern auch geronnene Formen imperialer Gewalt. Die Veröffentlichung 2018 des Gutachtens Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthique relationnelle von Felwine Sarr und Bénédicte Savoy, in dem die Restitution gestohlener afrikanischer Objekte aus dem Pariser Musée du Quai Branly an ihre Herkunftsländer gefordert wird, und das zeitgleiche Herannahen einer sogenannten "Migrationskarawane" aus Honduras in Richtung USA ist kein Zufall: Die Geschichte ist ebenso alt wie die Erfindung der "Neuen Welt". Das vom französischen Präsidenten in Auftrag gegebene Gutachten empfiehlt die Rückgabe von 40.000 Objekten, die Frankreich während seiner Kolonialzeit in Afrika stahl. Für die Museen der Vereinigten Staaten wurde bisher keine ähnlichen offiziellen Untersuchungen und Gutachten zur Plünderung von Objekten aus Honduras (sowie aus Mittel- und Südamerika im Allgemeinen) in Auftrag gegeben, jedoch sollten wir die tausenden von Menschen, die sich gegenwärtig auf den Weg in die USA machen, als legitime Anwärter*innen anerkennen, die ebenfalls Reparationen und Restitution einfordern. Sowohl gestohlene Objekte als auch die Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden (einige von ihnen inzwischen von ihren eigenen Regierungen), tragen weiterhin das Zeugnis imperialer Plünderung und Enteignung.

Es ist kein Geheimnis, dass Millionen Objekte, die nie für die museale Präsentation bestimmt waren, von verschiedenen imperialen Mächten aus der ganzen Welt geplündert wurden. Es ist ebenso kein Geheimnis, dass viele von ihnen sorgfältig in sterilen Museen aufbewahrt wurden und heute als wertvolle Kunstobjekte gelten. Gleichzeitig ist es kein Geheimnis, dass Millionen von Menschen, denen unzählige Objekte, aus denen sich ihre Welt konstituiert, gestohlen wurden - Werkzeuge, Ornamente, Gegenstände, auf welche sie noch immer ein Anrecht haben -, weiterhin nach einem Ort suchen müssen, an dem sie sich wieder ein Zuhause aufbauen können.

Ein Beispiel eines aus Honduras gestohlenen Objekts aus den Museumsakten: Anhand seiner Form und Symbolik lässt sich erkennen, dass der hohle Stein, in dem Körner gemahlen wurden, nicht auf seine Funktionalität reduziert werden kann, sondern vielmehr Teil einer Welt von Werten, Kenntnissen und Ansprüchen ist, die die Menschen nutzten, um sich ein Selbstverständnis und Gefühl von Zuhause zu schaffen. Bewohner*innen von Honduras die versuchen, den verheerenden Folgen des Imperialismus in ihrem Land zu entkommen, treffen an den Grenzen ein, wo sie in Fotografien als objektlose und weltlose Migrant*innen dargestellt werden. 

Jahrhunderte des Imperialismus lehrten bewaffnete, imperiale Akteur*innen, sie hätten die Befugnis, diejenigen zu erschießen, die lediglich Gepäck zum Stillen ihrer unmittelbarsten Bedürfnisse bei sich tragen. Da die erzwungene Migration der gemeinschaftlichen Objekte durch die imperialen Expeditionen erreicht wurde – nicht weniger als die erzwungene Migration, von der sie glauben, dass sie keine andere Wahl haben, als sich in die Vereinigten Staaten zu emigrieren –  ist es an der Zeit, den “papierlosen” Status zurückzuweisen, der diesen Menschen von den imperialen Regimen aufgezwungen wurde. 

 

fig. 1

 

Es ist an der Zeit, ihre Bewegung als Gegen-Expedition von Menschen anzuerkennen, die sich gegen die Trennung von der Welt, die sie als ihre betrachten, auflehnen. Diese beiden ineinandergreifenden Systeme der Be- und Misshandlung von Objekten und Menschen – sich angeeignete Objekte werden sorgfältig dokumentiert und von Museums Expert*innen gepflegt, gleichzeitig werden ihre Besitzer*innen als “papierlos” bezeichnet und den Grausamkeiten der Grenzpolizei ausgeliefert. Diese Menschen stellen keine Bedrohung für die souveränen Staaten dar, in denen sie Asyl suchen, sondern sind zentrale Akteur*innen einer politischen Realität, die sie herzustellen suchen. In dieser potentiell, transformierten Welt werden genau solche Grenzen und Rechtssysteme abgeschafft, deren Ziel darin besteht, Menschen und Objekte voneinander fernzuhalten.

Nach den Plünderungen in Benin, im Kongo, in Honduras, Palästina und anderswo in der kolonisierten Welt wurden gestohlene Objekte für diejenigen unzugänglich gemacht, die sie geschaffen und genutzt haben. Es ist höchste Zeit, diese Missachtung kolonialisierter Gruppen zu beenden, die jahrzehnte und jahrhundertelang der Objekte ihrer Vorfahren beraubt wurden, welche nun in Museen, Archiven und Bibliotheken nach imperialen Prinzipien und Klassifizierungsverfahren konserviert werden. Es ist höchste Zeit, sich gegen die Autorität internationaler Kulturorganisationen wie der UNESCO oder ICOM aufzulehnen, deren standardisierte Sprache und Reglementierungen den lokalen Dialekten derjenigen fremd sind, die diese Objekte und Dokumente geschaffen und das in ihnen enthaltene Wissen und die Rechte an ihnen geerbt haben. Internationale Institutionen begründen ihre Plünderungen durch Institutionalisierung, Standardisierung und propagieren weltweit ein neutrales Regime der Objektpflege - Sicherstellung, Konservierung und Archivierung. Wir sollten jedoch imperiale Praktiken der Konservierung und Archivierung als das erkennen, was sie sind: Verbrechen.

Die Signifikanz des Berichts von Sarr und Savoy lässt sich nicht allein auf das Argument der längst überfälligen Rückgabe reduzieren. Denjenigen, die dieser Gegenstände beraubt wurden, war dies schon immer bewusst, vom Moment der ersten Enteignung an. Der anhaltende Widerstand dieser Menschen ist es, der den Bericht ermöglicht hat. Die Relevanz des Berichts liegt in seiner Forderung nach der Abschaffung nationalstaatlicher Gesetze, die Plünderungspraktiken schützen und durch das Proklamieren einer Unverzichtbarkeit geraubter Objekte Gerechtigkeit illegalisieren, sodass sie niemals französische imperiale Institutionen verlassen. In diesem Sinne sollte die Rückgabe der ersten Objektgruppe von 23 aus Benin gestohlenen Teile - die, wie der französische Präsident ankündigte, "ohne Verzögerung" beginnen wird - nicht als ein Ziel an sich betrachtet werden, sondern als erster Anstoß für die Abschaffung des imperialen Kulturrechtssystems.

Es handelt sich dabei nicht um eine einfache Reform auf der Suche nach einer besseren Zukunft in einer anderen Epoche. Vielmehr handelt es sich um einen Versuch, die Ursprünge der imperialen Enteignung selbst rückgängig zu machen, indem man zu dem Moment von 1492 zurückkehrt. 1492 ist zugleich der chronologische und ontologische Ursprung des Imperialismus und ebenso der nicht-imperialen Potenzialität. Wenn 1492 sowohl den Zeitpunkt der Eroberung als auch der Erfindung der "neuen Welt" darstellt, an dem sich das Recht genommen wurde nicht-weiße Menschen zu versklaven, Juden und Muslime aus Spanien zu vertreiben, dann beinhaltet es unterschiedliche Auswirkungen an verschiedenen Orten. Das Jahr 1492 ist in Palästina zum Beispiel 1948. Für Honduras ist es 1524.

Die Restitution gestohlener Objekte allein tilgt weder die Schuld imperialer Mächte noch die anhaltende Verwüstung, die sie in diesen Regionen durch internationale Militäreinsätze, korporative Machtausübung und Banken anrichten. Imperiale Gewalt manifestiert sich in einem Regime und kann daher nicht einfach freigesprochen, in der Vergangenheit besiegelt oder durch eine imaginäre bessere Zukunft überwunden werden. Vielmehr sollte sie verlernt, umgekehrt und aufgehoben werden. Menschen, die vor politischen Regimen in ehemaligen Kolonien fliehen und in Europa, den USA und Israel Asyl suchen, werden nicht in Verbindung mit den wertvollen Kulturgütern ihrer Kulturen wahrgenommen, die vor langer Zeit in US-amerikanische und europäische Museen gebracht wurden, aber sie sind es. Die erzwungene Migration von Menschen und Objekten macht dabei beide zu Migrant*innen. Parallel zu den Prozessen der Restitution müssen "wir", d. h. die Gemeinschaften von Wissenschaftler*innen, Studierenden und Künstler*innen unseren Anteil an Museen und Archiven anerkennen und die Rückgabe geraubter Objekte fordern. Die Enteignung stellt einen ersten Schritt zur Befreiung dieser Objekte vom imperialen Joch dar, die es ermöglicht Zugänglichkeiten für andere zu schaffen und ihren rechtmäßigen Besitzer*innen die Entscheidungsmacht über die Zukunft dieser Objekte zurückzugeben. 

Europäische Bürger*innen handeln bereits hier und da gegen ihre Regierungen, um Migrant*innen einzuschleusen und sie zu unterstützen, und verschieben dabei eine Tourists-Welcome Politik, in eine Migrants-Welcome Politik. Auf diese Weise stehen sie dafür ein, dass Migrant*innen eine einmalige Möglichkeit für Bürger*innen darstellen, das Erbe imperialer Gewalt in ein anderes Verhältnis zwischen den Nachkommen der Kolonisierten und der Kolonisierenden zu transformieren.

Das Recht, dort zu leben, wo die eigene Kultur in einem sterilen Museum konserviert wird, sollte im berechtigten Zelebrieren des Berichtes von Sarr und Savoy nicht vergessen werden.

\\

 

Dieser Essay ist eine Adaption des Buches Potential History: Unlearning Imperialism (Verso, 2019) und wurde zuvor auf Hyperallergic veröffentlicht.



  • IMAGE CREDITS

     

    Cover: Tanya Habjouqa, Birds Unaccustomed to Gravity, Zanba, Occupied West Bank, 2017 © and Courtesy Tanya Habjouqa

    Palestinian community volunteers prepare a backdrop for kids theatre, showcasing East Jerusalem and the Dome of Rock, which they are not able to access despite proximity.

     

    fig. 1: Tanya Habjouqa, NOOR/Rawabi/Occupied West Bank, 2020 © and Courtesy Tanya Habjouqa

    Somaya was one of the first real estate agents in the first new Palestinian city of Rawabi. Here, she peaks out of Rawabi's PR office with its sleek visuals and models, selling the Palestinian dream: affordable homes and a comfortable life. 



     

Cookies

+

To improve our website for you, please allow a cookie from Google Analytics to be set.

Basic cookies that are necessary for the correct function of the website are always set.

The cookie settings can be changed at any time on the Date Privacy page.