Das sind die Fragen, die mich in den letzten Jahren beschäftigt haben. Beim Versuch, mich von meinem Elternhaus, von meinen Freunden und meinem kulturellen Determinismus zu lösen, postulierte ich meine Individualität in- und außerhalb meiner Grenzen. Aber ich weiß immer noch nicht, wie ich über Grenzen sprechen soll oder wie ich mit der Schuld der Grenzüberschreitung umgehen soll.
Eine Grenze ist ein Ort, an dem zwei unterschiedliche Formen und Materialien aufeinander treffen. Wenn die Grenzen von Seen, Gärten, Körpern im Verhältnis zu unserer Umgebung eher profan sind, sind persönliche Grenzen, aber auch die des Staates, spekulativ gezogen. Ihre Geometrie ist abstrakt. Selbst in der Mathematik ist es nicht immer möglich, die genaue Lage der Grenzen zu bestimmen. Funktionen, die den Nullpunkt anstreben, erreichen ihn nie. Sie nähern sich ihm in Nanometern, aber die Grenze selbst wird nicht überschritten. Die Orte, an denen zwei Staaten aufeinander treffen, sind Räume von besonderer Dimension in dem Formen und Materialitäten beider Seiten manchmal unvorhersehbare Auswirkungen haben. Oftmals materialisiert sich eine abstrakte Grenze zwischen Staaten zu einer greifbaren Klassengrenze: Besonders gut sichtbar am Übergang zwischen der Ukraine und Polen. Grenzbereiche sind langgezogene Portale, die in das duktile Gewebe des Grenzenlosen eintauchen. Es handelt sich um Räume kultureller Duldung, in denen nationale Symbole angesichts einer, engen und für andere offensichtlichen, Nähe zu einer Verhöhnung ihrer selbst, ihrer eigenen Karikaturen, werden.
Ira Konyukhova, Thankful migrant. Glazed ceramic, 2020
Im Russischen klingen die Synonyme der Grenze fatal und kompromisslos: Das Wort ist hier zunächst einmal eine Wende, ein Rand, eine Limit, ein Kordon. Im Russischen ist die Grenze nach innen gerichtet, sie ist von sich selbst besetzt, und es gibt niemanden, der jenseits dieser Grenze existiert. Im Ausland (wörtlich: hinter der Grenze) gibt es nur einen Abgrund, eine Abyssus, den Tod. Die metaphorische Zentripetuität der russischen Sprache, die mit aller Macht einen verschwört, sich vom Rand wegzubewegen und die Grenze nicht zu überschreiten, manifestiert sich von Zeit zu Zeit in der russischen Innenpolitik.
Die Grenzen, nicht als ein Begriff, sondern als eine greifbare Realität, haben sich Mitte März dieses Jahres wieder materialisiert. In diesem Moment wurde besonders deutlich, dass Grenzen in erster Linie ein Instrument der Unterordnung, Kontrolle und, als solches, der Manipulation sind. Natürlich waren die Staatsgrenzen der Europäischen Union für die Mehrheit der Einwohner Afrikas und des Nahen Ostens schon immer genau das.Sprich nie eine Abstraktion oder ein ideologisches Kennzeichen der "Freizügigkeit". Grenzen nicht zu beachten kann auch ein Privileg sein, das wir nicht wahrnehmen.
Laut den Statistiken von Suchmaschinen, nahm das Interesse an Staatsgrenzen mit Beginn der Pandemie in fast allen Ländern wieder zu. (1) (2) In Russland verdoppelte sich jedoch parallel zur Suche nach Informationen zu den Staatsgrenzen die Anfrage über die persönliche Grenzen.. Eingeschlossen in einer Wohnung, die oft in Chruschtschow-Zeiten gebaut wurde, oder in neumodischen 20 sqm Studios, fühlten junge Paare und Familien plötzlich nicht mehr so sehr die Grenzen des Staates (für die Mehrheit der Russen ohnehin unerreichbare) sondern die Grenzen ihres Lebensraums und die Unvermeidbarkeit, ihn ständig mit jemand anderem zu teilen. Nicht nur im postsowjetischen, sondern auch im postkapitalistischen Wohnraum ist diese Kompaktheit von Bedeutung. So bietet sie schließlich Anlass zu einer Welle von Demonstrationen über die Enge anderer - rassischer - Grenzen. In diesen überfüllten Versammlungen konnte keine Stecknadel zur Erde fallen.
Es ist eventuell auch lächerlich, persönliche und öffentliche Grenzen zu vergleichen. Aber was ist eine persönliche Grenze? Sie wird nicht durch die Umrisse meines Körpers definiert.Wo liegt sie also? Einen Meter von mir entfernt oder einen Kilometer? Persönliche Grenzen sind schwer zu beschreiben und zu bestimmen. sie sind vergänglich, unsichtbar, illusorisch - aber sie werden vom ganzen Körper gespürt, stören das leben, das atmen, das lieben, das verschmelzen. Auch die Grenzen des Staates sind vergänglich und geisterhaft. Sie tragen die Transitivität, die Mortalität, die Irrationalität dessen, was auf beiden Seiten geschieht. Auch wenn das Sterben an den Grenzen in keiner Weise metaphorisch ist - der Tod von Menschen an den von Soldaten gezogenen Grenzen ist ganz real.
Ira Konyukhova, Thankful migrant 2. Glazed ceramic, 2020
Obwohl die Grenzen auf der Karte mit Linien markiert sind, sind sie nicht ganz so klar. Zum Beispiel Kurdistan dessen Staatlichkeit sich innerhalb der Grenzen von vier Staaten befindet; oder die Aufteilung Afrikas zwischen kolonialen Ländern, die zu einer absurden Grenzziehung führte. Die Grenze der modernen ehemaligen Sowjetunion ist nicht auf Russland oder die GUS beschränkt. Sie ist eine sich verschiebende Übergangsschicht in den gesamten euro-amerikanischen kapitalistischen Zyklus. Aber können wir mit Sicherheit sagen, wo diese Grenze liegt? Vielleicht ist das hin- und her flanierende von Grenzschützern ist die beste Metapher für eine Grenze, denn sie verschiebt sich, bewegt sich, verschmilzt mit ihrer Umgebung und ist dadurch nicht mehr klar sichtbar.
Unter anderem scheint es wichtig zu sein, darüber nachzudenken, wer die Grenze überquert, indem man ihre erschreckende symbolische Bedeutung negiert. Denn gerade weil die Grenze selbst und ihre Bedeutung unbedeutend ist, ist es oft unmöglich, sie zu schützen. Viel wichtiger ist nicht, dass sie existiert, sondern was jenseits von ihr liegt. Denn vielleicht verbirgt sich hinter der Grenze ja nichts grundlegend Neues - und deshalb ist ihre defensive Funktion so wichtig. Aber wenn man die Grenze überschreitet, versteht man, dass die Prunkhaftigkeit aller staatlichen Zeichen, nationalen Riten und gerahmten Traditionen dazu dient, die grundlegende Undeutlichkeit und vielleicht sogar Einheit zu verbergen.
Deshalb scheint Gemeinschaftlichkeit, das Finden gemeinsamer Schnittpunkte und Transfusionen, so wichtig in einer Welt, in der Differenzierung die wichtigste und fast einzige Voraussetzung für die Bildung der eigenen Identität, der Anerkennung der Unabhängigkeit und der eigenen Besonderheit ist. Vielleicht ist Fluidität nicht nur geschlechtsspezifisch, sondern auch national, territorial und ethnisch. Es durchdringt unser Leben so stark wie das (Un-)Bewusstsein für unsere eigenen Grenzen.
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"Durchlässigkeit der Grenzen" was published as "Попустительство границ" in print issue 13, "Eurothanasia"