Eine Game-Engine generiert den Ausblick: Ein tropfender Strom den Berg herunter fließend, ein idyllisches Haus versteckt am Fluss, eine Skyline im Nebel, der die Hektik der Stadt verbirgt. Diese Bilder hat der Künstler programmiert, sie werden jedoch durch Echtzeitdaten aus der Ruhr verändert. Der Fluss fließt hinter dem Gebäude, in dem sich die Ausstellung befindet, ein stillgelegtes Wasserwerk, vorbei. Die Menge der Besucher*innen und die Feuchtigkeit im Raum bewegen sich durch das Gebäude. Die Organismen, die sich hier versammelt haben, verweben sich mit den Daten des Klaviers, das Noten aus komponierten Stücken des Künstlers spielt, die ebenfalls durch Echtzeitdaten verändert werden - dies ergibt zusammen die Arbeit dream sequence von Yuri Pattison. Pattison, der die Erzählung einer Strömung, die hier in Witten beginnt, die Region durchquert und ins Meer mündet, lenkt und gestaltet, lässt die Ökosysteme auf poetische Weise sprechen. Es sind aleatorische Atmosphären, die je nach Tageszeit durch Algorithmen, Smog und Sonnen- und Mondlicht auf dem riesigen LED-Bildschirm dargestellt werden.
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Dieses minutiös inszenierte Stück aus technischen, anti-illusorischen, ja melancholischen Überlegungen ist der perfekte Einstieg ins Ruhr Ding:Schlaf, die letzte Ausgabe des Ausstellungsformats Ruhr Ding. Doch was ist hier modelliert und was ist real? Was ist eine prognostizierte Zukunft und eine gefälschte Gegenwart? Und wie gehen wir angesichts der Klima- und Gesellschaftskrise heute mit der Vergangenheit der sich rasant verändernden Städte um? Yuri Pattisons Datenschleifen im Einklang mit sechs verschiedenen Musikkompositionen erklingen über den ganzen Tag und tragen uns weiter in die verschiedenen Städte, die sich als Bühne für ein Amalgam von Überlegungen zur Rolle von Umwelt, Konsum und Arbeitsbedingungen für den menschlichen Schlaf öffnen.
Nach Ruhr Ding: Territorien (2019) und Ruhr Ding: Klima (2021), findet Ruhr Ding: Schlaf den ganzen Sommer über bis zum 25. Juni in vier Städten des Ruhrgebiets statt und veranschaulicht eine unmittelbare Verbindung zwischen den historischen Anfängen des Bergbaus im 19. und 20. Jahrhundert mit dem heutigen Ringen um den Zugang zu Trinkwasser, bezahlbarem Wohnraum und postindustriellem Zusammenleben. Mit der Deindustrialierung kam im Ruhrgebiet die Befürchtung auf, die Region könnte zum „Schlafgebiet“ werden. Die Kirschblüten im Wind und die anregenden Gespräche in der Sonne mit den Kuratorinnen und Künstler*innen an den Eröffnungstagen verzauberten die vermeintlich dem Schlaf geweihten Städte: Essen, Witten, Gelsenkirchen und Mülheim an der Ruhr.
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Der Kreislauf von Leben und Tod von Organismen, Tieren und Pflanzen lässt sich in ehemaligen Industriestadtteilen wie Gelsenkirchen-Erle intensiv erfahren. Erle ist eine der vielen Siedlungen, die für ehemalige Kohle-, Eisen- und Stahlarbeiter*innen errichtet wurden. Seit der Modernisierung umgeben von einem Grüngürtel, ist die St. Bonifatiuskirche heute ein Zentrum für ein Lager für das, was Irena Haiduk Myconomie nennt: ein sowohl praktisches als auch metaphorisches Modell für eine gemeinschaftliche Zucht- und Erntepraxis für Pilze, welche als zweite Phase des Kunstprojekts Healing Complex (2018-ongoing) im März 2023 eröffnet hat.
Die kommunale Tauschwirtschaft durch Zucht und Ernte von Pilzen als Lebens-, Heil- oder Rauschmittel ist in ihrem Konzept großartig und aktiviert eine große Beteiligung der Nachbarschaft. Die Pilzperspektive auf die Rolle der Kunst im öffentlichen Raum verweist auch auf die myzelische Struktur hinter dem Festival der Urbanen Künste Ruhr, die Kultur Ruhr GmbH, die weitere komplexe interdisziplinäre Säulen hat, wie die Ruhrtriennale, Tanzlandschaft Ruhr und Chorwerk Ruhr.
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Das Ruhr Ding entwickelt sich dieses Jahr zwischen den Schichten privater und öffentlicher Gebäude und behandelt die Widersprüche offensichtlicher und versteckter Elemente des Zerfalls. Aus einer psychoanalytischen Perspektive heraus collagiert die in London lebenden Künstlerin Joanna Piotrowska romantische Vorstellungen und gegenwärtige Sehnsüchte vom guten Leben in archivarischen Schwarz-Weiß-Fotografien, die in den Schaufenstern der ehemaligen Warenhauskette Galeria Kaufhof als sich puppenhaft bewegenden Installationen die Einkaufsmeile dynamisieren. Viele Filialen mussten zuletzt nach jahrzehntelanger Prägung der Innenstädte Deutschlands wegen Insolvenz schließen und hinterließen Tausende von Arbeitslosen, die noch immer auf eine Entschädigung warten. Piotrowska betitelt ihren Beitrag nach einem Zitat vom Psychoanalyst Carl Gustav Jung –Dreams are the facts from which we must proceed– und zeigt in dieser intimen Ansammlung eine surrealistische Konsum- und Klassenkritik, die in ihren üblichen traumhaft atmosphärischen Kompositionen Menschen in privater Umgebung porträtiert.
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Essen bietet auch viele Szenarien, die das brüchige Verhältnis zwischen Öffentlichem und Privatem reflektieren. Zwischen immer flexibleren Arbeitszeiten und dem Bedürfnis nach einem ruhigen Geist, der in Verbindung steht mit der Welt, zwischen der Umgebung, der technologischen und digitalen Messbarkeit von Körpern, steht der Schlaf als ein universelles gemeinsames Bedürfnis. Eines dieser Szenarien ist eine weitere leerstehende Shopping Mall, das Wertheim-Einkaufszentrum. Die zwischen Kiew und Paris lebenden Künstlerin Nadia Kaabi-Linke nähert sich der Ruine mit dem "Astro-Mining" in einer diskreten Installation, die sich in einem der ehemaligen Geschäfte versteckt und die Besucher*innen durch die Stille, die sich in den Gängen ausbreitet, anzieht. Diese Arbeit, Ad Astra, beginnt im Dunkeln und beleuchtet eine verspiegelte Struktur aus Rohren und Leitungen an der Decke. Die Neonlichter gehen langsam an und aus und erlauben es den Besucher*innen, in den Rohren und nacktem Zement sich selbst und die dysfunktionale Struktur einer Stadt zu betrachten, die einst die unbegrenzte Versorgung und Rohstoffe versprach.
Wenn man das Ruhrgebiet zum ersten Mal besucht, spürt man unweigerlich den Zusammenhang zwischen der Nachkriegsarchitektur und einer bewussten Stille gegenüber der deutschen Nazi-Vergangenheit. Als Region, die Ressourcen für die Produktion von Waffen besaß, wurde das Ruhrgebiet stark bombardiert. Die Resultate dieser Leere, eine schlecht gehandhabten Wiedervereinigung Deutschlands und eine rassistische Gastarbeiter*innenpolitik aktivieren die interessantesten künstlerischen Prozesse in dieser Ausstellung. Ausgehend von ihrem Interesse daran, wie öffentlicher Raum entsteht, indem er aktiviert wird, bringt die in Düsseldorf lebende Maximiliane Baumgartner in Das sprechende Eck pädagogische Verfahren und konzeptuelle Malerei zusammen. Unter dem Motto "Wir nehmen Aufträge an" eröffnet die Künstlerin ein Spiel zwischen Schulen, Internetcafés, Bäckereien, Möbelhäusern und Nachbar*innen rund um den gesellschaftlichen Zweck künstlerischer Produktion. Dabei malt und collagiert Baumgartner zusammen, was Kinder und Jugendliche aus den Anfragen der Nachbarn nach Kunstwerken wahrnehmen. Die Ergebnisse werden im Raum arrangiert, den die Künstlerin für alle zum Mitmachen gebaut hat.
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Viron Erol Vert schlägt eine Intervention in einem Kiosk im Stadtzentrum von Mülheim an der Ruhr vor. Der Kiosk bleibt geschlossen, während der Außenbereich in eine Loggia bzw. einen club-ähnlichen Versammlungsraum im Schein von Neonlichtern verwandelt wird. Der Raum selbst transformiert sich zu einer farbenfrohen Skulptur, die auf die ursprüngliche Funktion und Etymologie des persischen Wortes "kūšk", nämlich “Gartenhaus”, anspielt.
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Ein paar Meter vom Kiosk entfernt lädt das Makroscope zu einem noch tieferen Blick in die Schichten der Stadt ein. Vor zehn Jahren als lebendiges, soziokulturelles Zentrum für Künstler*innen und Gemeinwesenarbeit mit einer antirassistischen und feministischen Agenda eingerichtet, hat der Raum eine unangenehme Vergangenheit als Hauptquartier der lokalen Fraktion der NSDAP, die von den Betreiber*innen genau dokumentiert wurde. Das Kollektiv The Wig hat für die Räume eine Arbeit entwickelt, die durch poetische Fotokopien und unheimliche Klänge die Auswirkungen des Individualismus in einer kapitalistischen Gesellschaft untersucht. Die Sammlung von Fotokopiergeräten des Künstlers Klaus Urbons, die als das Museum für Fotokopie ein permanenter Teil des Makroscopes sind, schließen sich inhaltlich daher an, und schaffen eine Spannung zwischen Gezeigtem und Produktionsprozess.
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Michel Gondrys Home Movie Factory scheint die offensichtlichste Intervention zum Thema Schlaf zu sein, aber sie übertrifft jedes Klischee dessen, was ein populärer Hollywood-Regisseur und schlummer-besessener Mensch sein könnte. Gondrys Werk, das sich eigentlich nur mit Themen wie Traum, Wahrnehmung und Realität beschäftigt, zeichnet sich durch eine inspirierte Sparsamkeit der Mittel aus. Sein spielerischer Ansatz schafft es für die gesamte Ausstellung, die Faszination mit dem Thema Schlaf in der Auflösung einer Fata Morgana der Popkultur zu unterbrechen. In der düsteren Ruine einer ehemaligen Dreherei entfremdet ein sehr reales Filmstudio, das für alle zum Ausprobieren der Filmwerkzeuge und -verfahren eingerichtet ist, die unendliche Niedlichkeit seines Werks. Für die meisten Personen ist hier spürbar, wie schwer ein Film zu drehen ist und gleichzeitig wird man dazu eingeladen, sich selbst in diesem Genre auszuprobieren. Aber ist das überhaupt interessant oder nur erschreckend real? Was erleben wir bei der Inszenierung und Betrachten eigener Lebensbedingungen, abgesehen von den schönen Erweiterungen unserer selbst beim Träumen? Beim Abbau unserer eigenen Grenzen zu den Fiktionen des Schlafs und der Erweiterung unserer Selbst im Traum - verlieren wir oder gewinnen wir?
"Sleep feels productive" steht in Neongrün auf den orangefarbenen Totebags der Ausstellung, ein Motiv des Künstlers und Designers Stefan Marx. Ich fühle mich genauso und tagträume weiter.
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Das Ruhr Ding: Schlaf (5.5.–25.6.2023) ist ein umfangreiches Ausstellungsprojekt im öffentlichen Raum. Es bildet den Abschluss einer Trilogie, mit der Urbane Künste Ruhr unter der künstlerischen Leitung von Britta Peters durch das Ruhrgebiet wandert. Nach dem Ruhr Ding: Territorien (2019) und dem Ruhr Ding: Klima (2021) zeigt das dritte Ruhr Ding ortsspezifische künstlerische Neuproduktionen in den Städten Mülheim an der Ruhr, Essen, Witten und Gelsenkirchen-Erle. Von Fragen nach Umwelt und Umgebung verschiebt es den Blick auf den menschlichen Körper und dessen Bedürfnis nach Schlaf und reflektiert mit den Mitteln der Kunst die Frage, wie wir leben wollen.
Mit Werken von Wojciech Bąkowski, Maximiliane Baumgartner, Cute Community Radio, God's Entertainment, Michel Gondry's Home Movie Factory, Healing Complex, Nik Nowak, Katarina Jazbec, Nadia Kaabi-Linke, Stephanie Lüning, Melanie Manchot, Museum für Fotokopie, Yuri Pattison, Joanna Piotrowska, Kameelah Janan Rasheed, Alicja Rogalska, Nora Turato, Viron Erol Vert, The Wig.
In Kooperation mit Makroscope/Museum für Fotokopie Mülheim an der Ruhr, Astra Theater Essen, Neuer Essener Kunstverein, Kulturforum Witten, Märkisches Museum Witten, Saalbau Witten
Mehr unter https://www.urbanekuensteruhr.de/
- IMAGE CREDITS
Cover\fig. 1: Yuri Pattison, dream sequence (2023). Photo: Henning Rogge. Image courtesy of Urbane Künste Ruhr.
fig. 2: Irena Haiduk, Healing Complex: Myconomie (2018-2023). Installation detail. Photo: Henning Rogge. Image courtesy of Urbane Künste Ruhr.
fig. 3: Joanna Piotrowska, Dreams are the facts from which we must proceed (2023). Photo: Henning Rogge. Image courtesy of Urbane Künste Ruhr.
fig. 4: Nadia Kaabi-Linke, Ad Astra (2023). Atmospheric shot. Photo: Daniel Sadrowski. Image courtesy of Urbane Künste Ruhr.
fig. 5: Viron Erol Vert, Köşk x Kiosk (2023). Photo: Daniel Sadrowski. Image courtesy of Urbane Künste Ruhr.
fig. 6: The Wig, What are we in now? (2023). Photo: Henning Rogge. Image courtesy of Urbane Künste Ruhr.
fig. 7: Michel Gondry, Michel Gondry’s Home Movie Factory (2008-2023). Photo: Henning Rogge. Image courtesy of Urbane Künste Ruhr.