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(M)otherland

Die Ausstellung von Ruth Patir am Tel Aviv Museum of Art kreist nicht um ein binäres Entweder-Oder. Sie ist vielmehr an eine Konditionalität gebunden, die meist ignoriert wird.

Dies ist ein Text, den ich seit dem Sommer letzten Jahres veröffentlichen wollte. An diesem Impuls hat sich wenig verändert. Mein Eindruck bleibt: ANGA – die Art Not Genocide Alliance, ein Zusammenschluss aus vorwiegend Künstler*innen, die mit über 24.000 Unterstützer*innen, Israels Ausschließung von der Venedig-Biennale aufforderte – traf zur richtigen Zeit die richtige Entscheidung, indem sie Ruth Patir dazu brachte, den israelischen Pavillon aus eigenem Antrieb zu schließen. Der Schritt, den die Künstlerin ging, war einer des Muts, nicht des Kalküls.

Dass eine zunächst um Gerechtigkeit bemühte Kampagne sich in einen Mob verwandelte und ein Gespräch mit der Künstlerin ablehnte, erstaunt mich bis heute. Ich frage mich, wie es dazu kommt, dass sich ein kritisches Publikum bildet, das nicht mehr in ein Gespräch einwilligen kann. Selbst der künstlerische Leiter der Biennale, Adriano Pedrosa, ignorierte ihre E-Mails, in denen Patir um seinen Rat bat.

Im März dieses Jahres reiste ich nach Tel Aviv, um Ruth Patirs Ausstellung (M)otherland am Museum für Moderne und Gegenwartskunst zu sehen – jene Arbeit, die in Venedig nie gezeigt wurde. Dabei hätte sie damals, wie auch  jetzt, im Kontext der Eskalation und des vielschichtigen, genozidalen Vorgehens der Israelischen Regierung gegen palästinensische Zivilist*innen sowie der zunehmenden Proteste vieler Israelis dagegen eine relevante Perspektive bieten können. Ich schreibe dies eine Woche nach dem „präventiven“ Angriff Israels auf iranische Nuklearstationen, gefolgt von US-amerikanischen Luftschlägen – und Trumps kalkulierter Behauptung, dass dies ein Schritt hin zum Frieden wäre und dass es ein Waffenstillstandsabkommen zwischen dem Iran und Israel gäbe.

In ihrer Ausstellung (M)otherland inszeniert Ruth Patir unterschiedliche Formen auto-narrativer Darstellungen – Videos, die mit selbstironischen Unterton von ihrer eigenen Verletzlichkeit erzählen und zugleich die repressive Unterwerfung des weiblichen Körpers unter den männlichen Blick im israelischen Gesundheitssystem kritisieren. Es ist ein feministischer Aufruf zur kritischen Sichtbarmachung jener medizinischen, gesellschaftlichen und politischen Mechanismen, die weibliche Körper überwachen, bewerten und normieren. Patir hält der Reproduktionsmedizin einen Spiegel vor – nicht mit Pathos, sondern mit bitterer Intimität.

Ihre Selbstbefragung wird zur Anklage gegen ein System, das Intimität verformt, reproduktive Entscheidungen kontrolliert und weibliche Autonomie in Frage stellt. Zugleich verweist sie – implizit, aber unübersehbar – auf die noch gravierenden Formen dieser Kontrolle, denen palästinensische Frauen unter der militärischen Besatzung und kompletter Entrechtung ausgesetzt sind. Während Patirs Arbeit von der Enge zivilgesellschaftlicher Institutionen erzählt, ist das Recht auf medizinische Versorgung, körperliche Selbstbestimmung oder sichere Mutterschaft für viele Palästinenserinnen grundlegend eingeschränkt – oder ganz verwehrt. Sie zeigt, wie sich strukturelle Gewalt als biopolitische Kontrolle in den weiblichen Körper einschreibt – und dass ein Versprechen von Fürsorge, das der Begriff „Mutterland“ impliziert, durch koloniale und patriarchale Logiken unterlaufen wird. (M)otherland legt die Gewalt offen, die zwischen Alltag und Apparat ausgeübt wird – dabei lässt die Konzentration auf den Israelischen Staat eine Übertragung auf andere Regionen zu, ohne falsche Vergleiche zu ziehen.

Patirs Rechercheobjekte, digital reproduzierte weiblichen Tonfiguren, Artefakte archäologischer Grabungen, interessieren die Künstlerin vor allem aufgrund der Unklarheit über ihre historische Verwendung. Als vermeintliche Symbole der Fruchtbarkeit finden sich die Figuren als 3D-Animationen seit längerem in ihren Arbeiten wieder. Die Vorstellung, dass diese archaischen Artefakte möglicherweise auch von Frauen als Selbstporträts geschaffen wurden, fasziniert sie. Ko-Kuratorin Mira Lapidot verweist im Katalog darauf, dass etwa die berühmte Venus von Willendorf (ca. 29.500 v. Chr.) laut einer Interpretation die Perspektive einer Frau wiedergibt, die auf ihren eigenen Körper hinab blickt – in einer Zeit vor der Erfindung des Spiegels.

Die weite geographische Verbreitung der Fruchtbarkeitsfiguren im Levant, beispielsweise vom Westjordanland bis Syrien, lässt henotheistische Gesellschaften erahnen, die zwar einen Gott verehren, aber die Existenz anderer nicht ausschließen. In Patirs Händen – und mit ihrem unsentimentalen, trockenen Humor – werden diese uralten Frauenfiguren zu Vehikeln weiblicher Handlungsmacht, indem sie selbst zur Handelnden wird.

Eine dieser Figuren, die zu Patirs Alter Ego wird, besucht Kliniken und Arztpraxen, injiziert Hormone, lässt sich Eizellen entnehmen, zweifelt, diskutiert – mit ihrem Partner, mit ihrer Mutter, mit sich selbst. In einer Szene, die fast unerträglich lange dauert, verwandelt sich eine medizinische Brustuntersuchung in ein rhythmisches Trommelspiel. Die Hände des männlichen Arztes werden zu Trommelstöcken auf den hohlen Brüsten der Figur – ein kluges, bitteres Bild für die Entfremdung, die viele Frauen im medizinischen System erleben.

Alle Gespräche, die man in den Videos hört, ob in der Klinik oder zuhause, sind real. Dieser dokumentarische Aspekt macht (M)otherland zu einem Werk von Klarheit und Verletzlichkeit, das nicht ins Pathetische abgleitet. Ihre Geschichte ist zutiefst persönlich – und gerade deshalb übertragbar.

Fig. 1

Patir reflektiert diese Intimität auch kontextuell: Als junge Kunststudentin in Jerusalem wurde jede biografische Perspektive negiert; in New York, als sie an der Columbia studierte, galt sie als einzig gültiger Zugang zur Wahrheit. Diese Extreme interessierten sie. Zurück in Israel begann sie persönliche Narrative mit archaischen Bildern zu verweben – nicht als Selbstspiegelung, sondern als Kritik an der Idee von Identität selbst.

Eine weitere Spannung in Ihrem Werk: Sie verwendet Motion Capture, Facial Mapping und 3D-Programmierung – um gerade jene Technologien zu untersuchen, die unser Leben organisieren und kommerzialisieren. Eine Videoarbeit zeigt auf wechselnden Bildschirmen – sei es ein Fernseher im Wartezimmer oder das Smartphone der Figur – aktuelle Live-Übertragungen von nationalen und internationalen Nachrichten des Krieges, die das Narrativ ihrer Arbeit durchbrechen. 

(M)otherland kreist nicht um ein binäres Entweder-Oder. Sie ist vielmehr an eine Konditionalität gebunden, die meist ignoriert wird – aus der Perspektive eines weißen, privilegierten Publikums. Patirs Arbeit artikuliert eine Sehnsucht nach Verständnis – eine, für die in den Vorkommnissen der Biennale kein Platz gelassen wurde. Diese Sehnsucht schwingt in Patir’s Arbeit mit: Still, bitter, wütend – aber nie vereinnahmend. Trotzdem wird ihre Arbeit in manchen Kreisen diffamiert – wie etwa in einem Text, der sie unter dem Begriff Hasbara Feminism angreift.

Hasbara, ein hebräischer Begriff (הַסְבָּרָה, hasbará), der wörtlich „Erklärung“ bedeutet, steht in der politischen Praxis für eine Form der strategischen Öffentlichkeitsarbeit der israelischen Regierung. Ziel der Hasbara ist es, international ein positives Image Israels zu fördern, seine politischen Anliegen zu erläutern, Regierungshandlungen zu rechtfertigen und das Land gegen negative Presse- oder Delegitimierungsversuche zu verteidigen. Kritiker*innen von Patir werfen ihr mit diesem Begriff  vor, nicht bloß erklärend, sondern propagandistisch für den israelischen Staat zu agieren – insbesondere damit, menschenrechtlich problematische Sachverhalte zu relativieren oder verschleiern.

Entgegen dieser Vorwürfe ist Ruth Patir’s Werk jedoch weder Verteidigung noch Anklage, weder Repräsentation noch Distanzierung – sondern eine tastende, zutiefst traurige, feministische Vermittlung der Repressionen gegenüber weiblichen Körpern inmitten mehrerer Kriege, einer Besatzung, eines Genozids. Ihre Arbeiten folgen keiner didaktischen oder strategischen Linie, sondern einer existenziellen Notwendigkeit: Mit lustvoller Komplexität etwas zu erzählen, das sich nicht einordnen lässt. Dabei wird ihre Arbeit weder zur Kapitalisierung vom Leid der Anderen noch verfolgt sie den Anspruch, sich als international anerkannte Künstlerin auf Kosten anderer zu etablieren. 

Fig. 2

Die Kritik an Patirs Arbeiten offenbart eine verkürzte Lesart, die an binären Lagern festhält und dabei künstlerische Komplexität nicht als Möglichkeitsraum sondern als Bedrohung wahrnimmt. Doch gerade in ihrer Widersprüchlichkeit liegt die Stärke dieser Arbeit: Sie stellt aus, ohne zu instrumentalisieren; sie kritisiert, ohne zu denunzieren. 

Ruth Patir wird aufgrund ihrer Herkunft auf ihre Nationalität reduziert – ihre feministische Kritik droht im Kontext intersektionaler Gewalt zu verstummen. In geografischer Nähe zu einem Völkermord kann sie sich Selbstironie, ärztliche Versorgung und reproduktive Behandlungen leisten – während anderen Müttern die Kinder gezielt erschossen werden. Ungerechtigkeit schmerzt mehr, wenn sie sichtbar wird – und sichtbar wird sie im direkten Vergleich von Lebensrealitäten. 

Herkunft und Körper sind keine Wahl – aus diesen Gegebenheiten erwächst Verantwortung. Patir muss sich dem Schmerz stellen, den ihre Arbeit bei palästinensischen Zuschauer*innen und ihren Unterstützer*innen auslösen kann. Schmerz ist sogar notwendig, damit aus der Kritik der Arbeit später Zusammenhalt entstehen kann. Dafür müssen Unterschiede benannt und der Schmerz anerkannt werden – ohne zu erwarten, dass alle ihn schon jetzt tragen können.

Was Kunst in Zeiten eskalierender Gewalt überhaupt noch vermag: Sie schafft Räume, in denen Unsicherheit, Schmerz und Zweifel nicht relativiert oder gegeneinander ausgespielt, sondern geteilt werden können - auch wenn der Zeitpunkt des Teilens nicht für alle synchron verläuft. Die nächste Gelegenheit: im Jüdischen Museum in New York, ab diesem September.

 

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  • Images

     

    Ruth Patir, (M)otherland, 2024, video stills. © and courtesy of the artist

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