Jede Gesellschaft entwickelt Regeln für ein gutes Leben. Das gute Leben basiert darauf, das Richtige zu tun und zu denken und das Falsche zu korrigieren oder auszugrenzen. Doch wer oder was berechtigt uns, zwischen dem Richtigen und Normalen und dem Falschen und Nicht-Normalen zu unterscheiden? Und vor allem: Was geschieht, wenn gar kein richtiges Leben möglich ist? Wenn man selbst oder alle anderen im fundamental Falschen leben?
Paranoia und Kritik
Als Kultur- und Medienwissenschaftlerin interessieren mich besonders die Bilder und Metaphern, in denen das Lebensgefühl des Falschseins seinen Ausdruck findet. Eine Beobachtung ist, dass die Kritik am falschen Leben in den letzten Jahren zunehmend im Muster der Paranoia erzählt wird. Mit der Formulierung „Muster der Paranoia“ geht es nicht um die Annahme, dass mehr Menschen an psychotischen Störungen erkranken, sondern um Diskurspraktiken, in denen paranoide Wahrnehmungs- und Argumentationsschemata zum Ausdruck kommen. Paranoide Personen, so das Alltagsverständnis, sind von aggressivem Misstrauen geprägt, glauben an eine Verschwörung anderer gegen sich, reagieren extrem empfindlich auf Zurückweisung und neigen dazu, jede Kritik als feindlich oder verächtlich zu interpretieren. Dieses Ausgrenzungsmuster ist heute in nahezu allen gesellschaftlichen Konflikten virulent: Friedensaktivist*innen sind Putin-Freund*innen und Russland-Verschwörer*innen, Ukraine-Unterstützer*innen sind Bellizist*innen und Erfüllungsgehilfen der USA; Personen ohne Corona-Impfung sind potentielle Totschläger*innen usw. Kurzum: Allerorten ist man schnell bereit, anderen bösartige Motive zu unterstellen und ein Gefühl des Bedrohtseins zu kultivieren. In entscheidenden Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens begegnen wir uns dementsprechend eher feindlich und in großer argumentativer Schlichtheit.
Feind*innen und Patient*innen
Dass solche Situationen nicht neu sind, mindert weder ihre Bedrohlichkeit noch enthebt es uns der Notwendigkeit, nach den Quellen paranoisch gefärbter Wahrnehmungs- und Ausdrucksmuster zu fragen. Dazu gilt es auch das Verhältnis zu klären zwischen dem Diskursmuster des „Paranoischen“ und jener Diagnose, die aus einer paranoisch wahrnehmenden Person eine*n Patient*in oder Opfer des Wahns macht. In beiden Fällen handelt es sich um einen bestürzenden Prozess, an dessen Ende aus einer anderen Wahrnehmung oder abweichenden Meinung entweder die Aussage einer feindlichen Person oder die eines*r Patient*in geworden ist. Trotz aller Unterschiede haben beide eines gemeinsam: Ihre Aussagen und Ansichten besitzen keinerlei Geltungsanspruch mehr.
Wahnsinn und psychiatrische Macht
Das Thema des Wahns ist vielfach beleuchtet und umfassend untersucht worden. Eine wichtige Position nehmen die Arbeiten Michel Foucaults zur Geschichte des Wahnsinns und der Entstehung der psychiatrischen Macht ein. Demnach ereignete sich um 1800 ein entscheidender Bruch. Vor 1800 galt Wahn als eine Form von Verblendung und Täuschung und konnte durch Therapien geheilt werden. Im 19. Jahrhundert hingegen begann man, Wahnsinn als eine Störung im Handeln, Wollen und Fühlen zu betrachten und die Wahnsinnigen in Heilanstalten wegzusperren. Fortan wurde man als Irre*r disqualifiziert, die*der keinerlei Macht über die eigene Krankheit besitzt.
Foucault beschreibt diese Entwicklung als Umwandlung des Wahnsinns in eine Politik der Psychose. Die psychiatrische Macht allein, so Foucault, ist fortan in der Lage, in abweichendem Verhalten Pathologien zu erkennen und die Normalität zu verteidigen.
Irrer und Arzt
Auf diesem Pfad der modernen Kulturgeschichte tauchte zu Beginn des 19. Jahrhunderts erstmals ein neues Motiv des Wahnsinns auf, eine technische Apparatur, auf deren Einwirkung psychotische Patient*innen ihre Erlebnisse der Fremdsteuerung zurückführten, ein sog. Beeinflussungsapparat – den Begriff prägte der Wiener Psychoanalytiker Viktor Tausk etwa hundert Jahre später. Es handelte sich um den „Luftwebstuhl“ des Kaufmanns und Handelsreisenden James Tilly Matthews, den man 1796 in die Londoner Irrenanstalt Bethlam eingewiesen und als unheilbar geisteskrank diagnostizierte hatte.
Matthews Beeinflussungsapparat spiegelte den Stand der Wissenschaft um 1800. Er bestand aus einer Vielzahl von Hebel- und Ventilmechanismen, Batterien und magnetischen Flüssigkeiten, und wurde zu Matthews Leidwesen von einer Verbrecherbande benutzt, um Gedanken und Gefühle direkt in sein Gehirn zu übermitteln und ihn mit Wahnideen zu quälen.
Matthews Familie versuchte mehrmals, ihn aus den unhaltbaren Zuständen der Irrenanstalt zu befreien, doch jedes Mal gelang es seinem behandelnden Arzt, Joseph Haslam, eine Freilassung zu verhindern.
Haslam hatte Matthews über Jahre ermutigt, seine eigene Geschichte zu schreiben und jenen bis ins Detail ausgeklügelten Luftwebstuhl zu entwerfen, der das Werkzeug seiner Qualen war. Es waren vor allen Dingen diese, von Haslam bestellten und bearbeiteten Schriften und Zeichnungen von Matthews, die vor Gericht als entscheidende Beweise für seine anhaltende Geisteskrankheit gewertet wurden. Der phantastisch-brilliant ausgearbeitete Luftwebstuhl, die Annahme, Menschen könnten mittels magnetischer Strahlung Fernwirkungen erzielen, bewog die Richter, Matthews als Irren bis zu seinem Tod einzusperren.
1810 veröffentlichte Haslam die Beweise für Matthews‘ Wahn unter dem Titel Illustrations of Madness. Er verhandelt darin weniger Matthews‘ geistigen Zustand, sondern rechnet mit jenen Ärzten ab, die es gewagt hatten, Matthews für gesund zu erklären und damit seine, Haslams, professionelle Meinung in Frage zu stellen. Das Buch spiegelt auf jeder Seite Haslams unbedingten Ehrgeiz, ein spezialisierter lrrenarzt zu werden und sein Diagnosemuster eines medientechnisch induzierten Wahns als zukünftiges Fachwissen zu etablieren.
„Falschsein“ und Kultur
Die Idee fernwirkender Beeinflussungsapparate durchzieht die Geschichte des Wahnsinns in Zeichnungen und Narrativen bis in die Gegenwart. Ihre Kenntnis verdanken wir Einrichtungen wie der Sammlung Prinzhorn am Psychiatrischen Klinikum der Universität Heidelberg oder der Sammlung Morgenthaler am Berner Psychiatrie-Museum. Hans Prinzhorn und Walter Morgenthaler gehörten zu den ersten, die künstlerische Äußerungen von Patient*innen und Psychiatrieinsass*innen zusammentrugen und einem kleinen Kreis von Interessierten zugänglich machten. Mittlerweile ist die Kunst von Irren/Geisteskranken, auch unter dem Titel Art Brut, einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden, doch die Versuche, die Stimmen jener Aus- und Weggeschlossenen und die Zeugnisse ihrer Widerfahrnisse des „Falschseins“ in die Geschichte bzw. Kultur unserer zeitgenössischen Welt zurückzuholen, fangen erst langsam an, Früchte zu tragen. Die Bemühungen, einen tiefen Graben zwischen Vernunft und Wahnsinn zu erhalten und dem so Abgespaltenen jedes Diskursrecht zu entziehen, haben nach wie vor die Oberhand.
Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass sich bis heute die Behauptung hält, Wahngebilde wie der Beeinflussungsapparat seien das Ergebnis einer grundlegenden Überforderung und mangelhaften Kenntnis der wissenschafts-technischen Entwicklung. Einige Menschen, so die landläufige Überzeugung, könnten mit den Anforderungen einer sich rasch verändernden Welt nicht mithalten und dächten sich deshalb verrückte Geschichten und Maschinen aus. Eine solche Deutung jedoch ist in den Bildern von Psychiatriepatient*innen schlicht nicht zu finden. Denn Bilder von Kranken, so Gottfried Boehm, sind keine kranken Bilder, d. h. nicht nur Dokumente einer gesundheitlichen Beeinträchtigung oder eines intellektuellen Defizits, sondern kreative Überlebensleistungen von großer Intensität und Lebendigkeit.
Weltrettung und „Social Media“
Eine der bekanntesten Vertreterinnen der Kunst von Geisteskranken ist die 1949 geborene, in Berlin lebende Künstlerin Vanda Vieira-Schmidt. Nachdem sie entdeckt hatte, dass böse Menschen handliche Uran-Geräte benutzten, um ihr und anderen Menschen schmerzhafte Strom- und Uran-Schläge zu versetzen, startete sie ihr so genanntes „Weltrettungsprojekt“. Im Verlauf von zehn Jahren schuf Frau Vieira-Schmidt tausende von Zeichnungen mit magischen Motiven, Mustern und Zahlen, die aus ihrer Perspektive mittlerweile eine friedliche Grundsicherung geschaffen haben. Im Konfliktfall kann sich die deutsche Armee jederzeit an Frau Vieira-Schmidt wenden, die dann sofort eine ihrer Zeichnungen ins Verteidigungsministerium schickt, wo mittels eines speziellen Lesecomputers die Lösung des Konflikts eingeleitet werden kann.
Ein gängiger Reflex auf die Arbeit von Frau Vieira-Schmidt ist der Hinweis, dass ihr „Weltrettungsprojekt“ ja nicht funktioniere, eben weil es auch keine Beeinflussungsapparate gebe. Solche Überlegenheitsgesten wirken umso befremdlicher in einer Zeit, in der die Mehrheit der Bevölkerung sich als Empfänger*in wie Agent*in in ein medientechnisches Beeinflussungsdispositiv globalen Ausmaßes eingekoppelt hat und einen großen Teil ihrer Zeit mit der Organisation eines virtuellen Bild- und Textschnipseluniversums verbringt. Während Frau Vieira-Schmidt mit ihrem Zeichenuniversum für den Weltfrieden kämpft, folgt die Social-Media-Logik von follow und like, von Bewerten und Be/Folgen, Verehren „und Verachten, einer polarisierenden Dynamik, welche argumentativ begründete Meinungsverschiedenheiten zwischen Gegnern zunehmend mit ideologisch geführten Hassreden unter Feinden zurückdrängt. Angesichts dieses Vernichtungsfurors scheint eine Einsicht Foucaults neue Aktualität zu gewinnen, nämlich dass ein Grund für die Ausgrenzung des Wahnsinns darin besteht, dass er einer verborgenen Wahrheit seine Stimme leiht.
Richtiges, Falsches – und die Welt
Es scheint aktuell kaum vorstellbar, dem „Wahnsinn“ in unserer von elektronischen Medien kolonisierten Gesellschaft zu entgehen. Zweifellos gibt es „Beeinflussungsapparate“ und ein Heer von Akteur*innen, die versuchen, ihre Botschaften „in unseren Geist“ zu projizieren und unsere Emotionen zu konditionieren. Ich denke, dass wir einen Zugang zu unserem eigenen Wahn, unserer eigenen Paranoia finden könnten, wenn wir uns mehr mit jenem Vorgang auseinandersetzten, mit dem wir andere erfolgreich als paranoid, geisteskrank, als „wrong beings“, ausgegrenzt haben. Ich glaube, es würde sich lohnen, die „verrückten“, „irrsinnigen“ Bilder in unsere Gegenwart zurückzuholen, weil in ihnen auf plausible Weise oft etwas zum Ausdruck kommt, das sich eigentlich ausschließt; weil sie dazu auffordern, sich dem Wunsch nach Vereindeutigung zu entziehen, weil sie uns daran erinnern, dass es zwar Richtiges und Falsches geben mag, die Welt sich aber dieser Einteilung nicht fügt. Sollten wir nicht vielleicht paranoider gegenüber den Beeinflussungsapparaten unserer Tage sein?
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Die Serie “Being Wrong” entsteht in Kollaboration mit der Zeppelin Universität Friedrichshafen.
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