Die Frage, was Kunstkritik heute sein kann – und was sie längst nicht mehr ist – begleitet die deutsche Sektion des internationalen Kunstkritiker*innenverbands AICA seit Jahrzehnten. Doch selten war sie so dringlich wie heute, wo gesellschaftliche Polarisierungen, ökonomischer Druck und kulturelle Vereinnahmungen zunehmend den Raum für unabhängige, kritische Stimmen verengen. Dieser Gedanke drängt sich mir auf, während ich dem Podium der diesjährigen Preisträgerinnen des AICA-Preises für Junge Kunstkritik lausche. Dabei erscheint mir das Gespräch wie eine Bühne der Selbstbehauptung, die wenig mit echter kritischer Auseinandersetzung zu tun hat.
Es folgten weder prägnante Positionen noch scharfsinnige Reflexionen – stattdessen herrschte eine Leere, die durch fachliche Ignoranz noch deutlicher spürbar wurde. Ist sie Ausdruck von Bildungsdefiziten, strukturellen Barrieren oder schlicht eines homogenen Desinteresses an der kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Feld? Mit der AICA selbst? Mit dem Talk-Format der Art Düsseldorf? Ich schreibe dies nicht aus Enttäuschung, sondern als langjähriges AICA-Mitglied und diesjähriger Medienpartner der Messe – aus dem wachsenden Bedürfnis nach relevanter, substanzvoller Kritik, für die es hier offenbar keinen Raum gibt.
Fig. 1
In einem Kunstbetrieb, dessen Verhältnis zur Ökonomie weniger von „Autonomie“ oder „kritischer Distanz“ geprägt ist als von Verwertungsketten, Symbolproduktion und kuratorischer Kapitalakkumulation, tritt Kritik allzu oft nur noch als PR-Format in Erscheinung. Und doch könnte sie gerade in diesem Kontext das letzte verbleibende Mittel sein, das Kunst und ihre Präsentation noch vom reinen Asset-Management unterscheidet. Jetzt wäre der Moment, den Mut aufzubringen, eine andere Form der Kritik zu wagen – eine, die Analyse mit Nähe verbindet, zum Nutzen aller Beteiligten.
Die Topographie der Messe erhebt selten den Anspruch, mehr zu sein als ein Marktplatz. Doch sobald sich die Stadt selbst involviert, verschiebt sich die Perspektive: Sie wird zur Kulisse einer lebendigen Auseinandersetzung. Die Präsentation der Sammlung Ringier in der Langen Foundation inszeniert sich als Geste von Großzügigkeit und intellektuellem Anspruch. Tatsächlich ist sie jedoch eine präzise kalkulierte Kanonisierung: Sichtbarkeit wird hier ökonomisch kuratiert.
Mit trockenem Humor könnte man die materialistische Kritik von Wade Guyton und Beatrix Ruf im Ausstellen von 500 Werke als Spektakel des Werts lesen, das sich selbst zur Ware macht. Die Präsentation steht im starken Kontrast zu den bisherigen Ausstellungen in der Langen Foundation, bei denen das Tadao-Ando-Gebäude zu einem Ort der kontemplativen Erfahrung wurde. Guyton mag sich für den Witz des Depots interessieren, aber man fragt sich: Wer möchte diesem Kurs der Entleerung folgen?
Fig. 2
Die Ausstellung in der Langen Foundation stellt eine Blaupause der Kunstwelt dar, die dem Prinzip der universellen Verwertbarkeit unterworfen ist. Inmitten des makellos inszenierten Porträt eines Sammlers fehlt das, was kritische Auseinandersetzung ausmacht: Reibung, Kontext, Selbstkritik. Statt eines Dialogs wird hier ein Monolog der Macht inszeniert– kunstvoll ausgeleuchtet, perfekt installiert, aber stumm gegenüber den Fragen der Gegenwart. Kunst wird zur Trophäe, nicht zum Werkzeug.
Auch die Platzierung von Simon Fujiwara im Booth der Julia Stoschek Collection beim „Japan-Fokus“ der Messe wirkte zunächst wie eine symptomatische Setzung. Doch „Who the Bear“, sein cartoonhaftes Alter Ego, ist mehr als bloße Karikatur des Kunstmarkts: Es offenbart ein feines Gespür für die Absurditäten ökonomischer Verwertung und verweist zugleich auf die Entfremdungserfahrungen, die damit einhergehen.
Im Kontrast zu den marktorientierten Inszenierungen wirken staatlich geförderte Initiativen wie der Bernd-und-Hilla-Becher-Preis erfreulich entschleunigt und konsequent in ihrem Anspruch: Sie orientieren sich an nachvollziehbaren Kriterien, begleiten künstlerische Praxen über längere Zeiträume und stärken die Kunst als Form der Erkenntnis. Die kommende Ausstellung in der Kunsthalle mit den Preisträgerinnen Ursula Schulz-Dornburg und Farah Al Qasimi verspricht in diesem Sinne eine wohltuende Vertiefung.
An diesem Punkt wäre eine Kunstkritik, die eine Reproduktion von künstlerischen Positionen hinterfragt, notwendig, doch sie ist selten erwünscht, zumindest nicht, wenn sie wirklich destabilisiert. Kritik, die nicht als Ressource dient, sondern es schafft, unbequem zu sein, Routinen zu stören und dabei Momente der Unterbrechung als Aufforderung sieht, den Betrieb selbst in Frage zu stellen.
Fig. 3
Auf der Messe der Art Düsseldorf wurde klar: Kritik entfaltet ihr reformierendes Potenzial nur, wenn sie neue Denkräume eröffnet. Statt geschlossener Kreise braucht die Messe kuratierte Zonen der Konzentration – Orte, an denen Werke und Diskurse gleichwertig verhandelt werden. Kursorische, vertiefende Auseinandersetzung sollte stärker ins Zentrum rücken – nicht nur in der Präsentation von Kunst, sondern auch in ihrer kritischen Vermittlung.
Ein konkreter Vorschlag: Die Einführung eines kuratierten Programmes für Kunstpublikationen als nicht-kommerzieller Raum für unabhängige Magazine, Lesungen, diskursive Formate und Redaktionstreffen. Die Talks als Kernelement diskursiver Auseinandersetzung zu konsolidieren, statt als Nebenprodukt könnte der Art Düsseldorf ermöglichen über die Rolle der Vertriebsplattform hinauswachsen und zu einem Ort werden, an dem neben Werken auch Begriffe, Werte und Kritik zirkulieren.
Ein Zeichen des Wandels setzt das Kapitel, das sich in Düsseldorf schließt: Max Mayer beendet seine Galeriearbeit in der Stadt, während die Galerie Hans Mayer mit einer letzten Ausstellung das Ende einer Ära würdigte – eine stille, einfühlsame Geste des Abschieds. Max Mayer entschied sich für den Aufbruch: Im September eröffnet er in Berlin-Charlottenburg – ein Wechsel, der nicht nur geographisch zu verstehen ist, sondern auch sinnbildlich für eine Generation steht, die neue Bedingungen schaffen will.
Seine neue Galerie versteht sich als Experimentierfeld für das Noch-nicht-Formulierte. Diese Haltung spiegelt bereits der Messestand wider: klar strukturiert, ohne kuratorischen Überbau, mit Raum für jede einzelne Position. Besonders hervor treten die Arbeiten von Stanton Taylor und Tobias Hohn, deren großformatige fotografische Ausschnitte aus Schaufenstern – 7.500 Euro (zzgl. MwSt.) – im engen Austausch entstehen. Die überlagerten Bildflächen erzeugen eine visuelle Spannung zwischen Schärfe und Unschärfe – fast ein tutografischer Moment. Im Dialog dazu hängen neue Gemälde von Murat Önen. Seine Arbeit Painter’s Window (11.600 Euro zzgl. MwSt.) reflektiert Malerei als Schaubühne – eine ambivalente Schnittstelle zwischen Blick, Künstlerfigur und Bildraum.
Fig. 4
Ein weiterer bedeutender Wechsel: Kathrin Bentele, deren kuratorische Arbeit am Kunstverein Düsseldorf kürzlich ausgezeichnet wurde, verlässt im Herbst die Stadt, um die Leitung der Kunsthalle Friart in Fribourg zu übernehmen. Seit 2021 prägt sie das Programm des Kunstvereins mit bedeutenden Ausstellungen wie der aktuellen Soloausstellung von Wang Bing, der Retrospektive von Monica Majoli („Distant Lover 2009–2024“) und „A Portrait in Fragments“ mit Patricia L. Boyd und Moyra Davey. Ihre kuratorische Praxis, die essayistische und genreübergreifende Ansätze verfolgt, reflektiert ein tiefes Verständnis von Institutionen als Orte der Produktion, Vermittlung und des kollektiven Dialogs.
Wieder ein Übergang, ein Möglichkeitsraum. Die Frage bleibt, was bleibt – und was neu entstehen darf.
Nicht alle verlassen die Region – manche erweitern ihren Radius: Nach der Eröffnung einer dritten Dependance in Los Angeles mit der präzise kuratierten Doppelausstellung Okey Dokey (Alice Channer & Charlotte Posenenske) zeigt die Galerie Konrad Fischer in Düsseldorf eine eindrucksvolle Installation von Edith Dekyndt. Ihre reduzierten, atmosphärischen Arbeiten – ab Juli auch in der Kunsthalle Bielefeld zu sehen – wirken wie poetische Verschiebungen: leise, aber bestimmt, stellen sie Fragen an das Verhältnis von Körper, Zeit und Umwelt.
Fig. 5
Die Galerie DREI zeigt gemeinsam mit Lukas Hirsch Werke in einem dichten, spannungsvollen Dialog. Mira Mann überlagert in Cinematheque Moranbong (2025) eigene Aufnahmen vom Anwesen Chris Markers mit dessen Nordkorea-Bildern – ein performativer Akt des Re-Fotografierens über Erinnerung und Bewegung. Ihre Skulptur The monumental objects of the wind (2024) verbindet theatralische Gesten mit ostasiatischen und europäischen Bildtraditionen. Hans-Ulrich Britsche, ehemaliger Waldorflehrer, zeigt fragile Notationen eines inneren Sehens – licht-metaphysische Malerei zwischen Abstraktion und Figuration. Während Britsche sich ins Poetische vertieft, entfernt sich Mann radikal vom zeitgenössischen Kunstdiskurs – und trifft ihn doch überraschend präzise.
Eine alternative Form der Kritik gestalten Katharina Klang und Victoria Tarak, Direktorinnen des Kunstverein Bielefeld, mit ihrem jährlich gestalteten Lesezeichen – eine scheinbar schlichte Geste, die sich als radikales Gegennarrativ zum kognitiven Kapitalismus versteht. Der Satz „I am Eye. I am I. The Mechanical I.“ reflektiert die Verschmelzung von Subjektivität und Technik, von Wahrnehmung und Ideologie.
Im kleinen aber prägnanten Booth des Kunstverein Bielefeld ist eine Edition der brasilianischen Künstlerin Andrea Hygino zu finden, die das koloniale Erbe des Bildungssystems ihres Landes thematisiert. Ihre poetische Barrikade aus gestempelter Sprache erinnert an Schüler*innenproteste und nutzt den Stempel als Symbol widerständigen Lernens. Der Preis ihres Unikats – 1.400 Euro, 1.200 für Mitglieder – macht deutlich: Auch Kritik wird in einem systemimmanenten Kunstmarkt handelbar.
Fig. 6
Formell anders, aber ähnlich präzise wirken die bestickten Werke von Mariuccia Secol bei der Bonner Galerie Gisela Clement. Secol schneidet Risse in Textilien und überstickt sie von Hand – ein zärtlicher Akt des Heilens, der Wunden sichtbar belässt. Der Faden ist kein Ornament, sondern Medium. Ihre in Deutschland kaum bekannten Arbeiten sind für unter 4.000 Euro erhältlich; eine Solo-Ausstellung in Bonn ist geplant. Neben Secol verweist eine ungewöhnliche Arbeit von Ulrike Rosenbachs eines drachenhaften Engels auf verborgene Geschichten. In ihrer Kiste liegt nicht nur das Werk, sondern ein Archiv gelebter Kunstgeschichte – Reisedokumente, Fragmente, Spuren.
Wie umgehen mit den Rissen, die der Betrieb hinterlässt? Vielleicht so: sie nicht kitten, sondern offenhalten. Kritik nicht als Dienstleistung begreifen, sondern als Nahtstelle zwischen Theorie und Körper, Institution und Straße, Wort und Protest. Und das Rheinland? Ein Schlachtfeld wie jedes andere – auf dem mit Preisen, Sammlungen und Sichtbarkeit gekämpft wird. Vielleicht braucht es genau hier eine neue Form von Radikalität: elegant, präzise, unbestechlich.
//
- Image credits
Cover: Das Lesezeichen I am Eye bezieht sich auf den Text von Dziga Vertov:
"I'm an eye. A mechanical eye. I, the machine, show you a world the way only I can see it. I free myself for today and forever from human immobility. I'm in constant movement. I approach and pull away from objects. I creep under them. I move alongside a running horse's mouth. I fall and rise with the falling and rising bodies. This is I, the machine, manoeuvring in the chaotic movements, recording one movement after another in the most complex combinations. Freed from the boundaries of time and space, I co-ordinate any and all points of the universe, wherever I want them to be. My way leads towards the creation of a fresh perception of the world. Thus I explain in a new way the world unknown to you."
Fig. 1: Mariuccia Secol, ... di Lato (1970er-Jahre). Copyright the artist. Courtesy of Galerie Gisela Clement
Fig. 2: Mariuccia Secol, ohne Titel (ca. 1980). Copyright the artist. Courtesy of Galerie Gisela Clement
Fig. 3: Mariuccia Secol, Abito da sposa (Casa di bambola) (1973). Copyright the artist. Courtesy of Galerie Gisela Clement
Fig. 4: Tobias Hohn & Stanton Taylor, In the Service of Reality (Berlin, Friedrichstraße) (2025). Copyright the artist. Courtesy of Gallery Max Mayer
Fig. 5: Andréa Hygino, ESTUDO PARA UM CADEIRAÇO #11 (STUDIE FÜR EINE BARRIKADE) (2024). Copyright the artist. Courtesy of Kunstverein Bielefeld
Fig. 6: Mariuccia Secol, ohne Titel (1974). Copyright the artist. Courtesy of Galerie Gisela Clement