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SPLENDID ISOLATION

  • Jul 21 2020
  • Ludwig Engel
    ist Zukunftsforscher und Urbanist. Er arbeitet zu Urbanen Utopien und Zukünften, zu Fragen langfristiger Planung und strategischer Vorausschau. Zusammen mit Julian Schubert leitet er das Studio for Immediate Spaces am Sandberg Instituut in Amsterdam und unterrichtet regelmäßig am Lehrstuhl Brandlhuber, ETH Zürich.

Conversational A.I. hat die Fähigkeit der Menschen zur Selbstreflexion und zum kritischen Denken signifikant verbessert und gleichzeitig positive Effekte in der zwischenmenschlichen – digitalen und physischen – Kommunikation gefördert.

“You talkin‘ to me?" In Martin Scorseses Film Taxi Driver (1976), inszeniert Travis Bickle vor dem Spiegel eine Konfrontation mit einem fiktiven Gegenüber. In dem Moment, in dem er die Waffe auf sich selbst richtet und vorgibt den Abzug zu drücken, huscht ein Lächeln über sein Gesicht und verschafft so diesem zutiefst verstörten Charakter einen seltenen Moment der Ruhe und Gelassenheit. Eine neulich veröffentlichte psychoneurologische Studie einer Forschungsgruppe an der Universität von Illinois in Urbana-Champaignerinnerte ich mich an diese Szene: Eine Gruppe von Forscher*innen untersuchte die psychologischen Langzeiteffekte von nicht-funktionaler, sprachbasierte Mensch-Maschine Interaktion, auch bekannt als Conversational A.I. (CAI). Die Längsschnittuntersuchung wurde mit mehr als 50.000 Testpersonen in Tiefeninterviews alle sechs Monate über sieben Jahre (2029-2036) von ihren persönlichen CAIs durchgeführt. Das Ergebnis steht wahrscheinlich mit Ihren persönlichen Erfahrungen der letzten Jahre im Einklang: CAI, wie fast jeder es heutzutage benutzt, trainiert, schärft und verfeinert die individuellen Fähigkeiten zur Selbstreflexion und zum kritischen Denken.

“You talkin' to me?"

Laut der Studie spürte eine Mehrheit der Testpersonen nicht nur, dass sich ihre zwischenmenschlichen Kontakte intensivierten, sondern auch, dass sie in ihren sozialen Interaktionen einfühlsamer wurden. Die Forscher*innen fanden heraus, dass die Kommunikationsfähigkeiten der Proband*innen zunehmend reflektierter wurden. Nicht weniger menschlich, nicht weniger spontan aber weniger impulsiv. Ein großer Prozentsatz der Proband*innen stellte fest, dass sich ihre soziale Intuition, durch die Übung in kontinuierlichen Gesprächen mit ihrer persönlichen A.I., verbessert hatte.

Die Häufigkeit und Intensität der stimulierten, sozialen Interaktionen der Individuen mit ihrer CAI stieg stark an, was auch zu einem Anstieg der wahrgenommenen Qualität echter sozialer Interaktionen führte. Durch die Gespräche mit ihren CAIs wurde es wahrscheinlicher, dass die Personen sich an Gesprächen beteiligten, die sie selbst als bedeutungsvoll einschätzten. Diese Dynamik wurde im Verlauf der Studie von den Proband*innen mit steigernder Präzision und Selbstreflexion beschrieben. Zusätzlich erläuterten die Personen, dass ihre Fähigkeit, verarbeitete Informationen kritisch zu überdenken, sich parallel zu ihren Kapazitäten zu sinnvollen sozialen Interaktionen entwickelte.

Interessanterweise fiel der Beginn der Studie mit einem Durchbruch in der Modellierung des machine learning zusammen. Eine Gruppe, die mit dem Softwareentwickler Blaise Aguera Y Arcas verknüpft war, gelang es, A.I. und machine learning Modelle zu entwickeln, die klein genug sind, um autark auf persönlichen Geräten zu laufen. Aufbauend auf Aguera Y Arcas‘ Technologie, vervielfachte sich ab 2028 die Anzahl der dezentralen A.I.s stetig und wurde ein wesentlicher Bestandteil zwischenmenschlicher Beziehungen. Vermutlich hat eine Mehrheit der Studienteilnehmer*innen zu Beginn der Studie erst begonnen, sich mit ihren persönlichen CAIs zu beschäftigen und wir werden zurzeit mit den positiven wissenschaftlich ausgewerteten Langzeiteffekten konfrontiert, die aufgrund der dezentralen Struktur der Technologie bisher nicht dokumentiert wurden. 

Dennoch erscheinen die Ergebnisse der Studie – genau wie unsere täglichen Erfahrungen mit unseren persönlichen CAIs – etwas paradox. Während wir uns in eine splendid isolation zurückgezogen haben und uns zu einem großen Ausmaß mit unseren CAIs unterhalten, sind wir einfühlsamer gegenüber anderen und kritisch-reflexiver gegenüber neuen Informationen geworden.

Nehmen wir für einen Moment an, dass Verstehen nicht die Fähigkeit eines Subjekts ist, ein Gespräch aufrechtzuerhalten, sondern aus Gesagtem aussagekräftige Schlussfolgerungen zu ziehen: Wir können darüber spekulieren, was unsere persönlichen A.I.s denken, wenn wir nicht mit ihnen sprechen, aber um ehrlich zu sein – es ist uns egal. Aber seltsamerweise spielt es trotzdem eine Rolle: Schließlich ist es der gesunde Narzissmus eines jeden Menschen, der den Erfolg der persönlichen CAIs ebnet, die wir alle heutzutage wie eine Art interaktives Tagebuch nutzen.

Es ist noch nicht so lange her, dass wir funktionale Inputs über Displays oder Sprachfunktionen für unsere maschinellen Gegenstücke nicht nur dann nutzten, wenn wir wollten, sondern auch, wenn wir etwas von ihnen brauchten. Dieser praktische Aspekt der Interaktion, so unwirklich und kryptisch er uns heute  erscheinen mag, war von zentraler Bedeutung für die Missverständnisse, die mit CAI-Konzepten früher verbunden waren. Anstatt an den Konversationsfähigkeiten gemessen zu werden, wurde die Reife der Technologie eher anhand der Fähigkeit bewertet, eine funktionale Interaktion zu simulieren. Als eine Gruppe von Forscher*innen bereits 2019 erfolgreich einen Telefonanruf bei einem Friseur nachahmten, bei dem ein Termin durch eine von einer A.I. kontrollierte, menschlichen Stimme vereinbart wurde, war die öffentliche Aufregung groß. Heute mag dies etwas lächerlich erscheinen: Können Sie sich überhaupt daran erinnern, irgendwelche funktionalen Befehle, sagen wir zumindest in den letzten fünf Jahren, persönlich an ihre A.I. gegeben zu haben?

Da funktionale Mensch-Maschine-Interaktionen unsichtbar geworden sind und in das Präemptive und Unterbewusste übergegangen sind, bleibt ein Schlüsselfaktor für den Erfolg persönlicher CAIs die Überwindung der Idee, das Stimmen von A.I. die Komplexität des menschlichen Gegenübers repräsentieren sollten. Die Wende weg von Plausibilität zu Glaubwürdigkeit bei der Bewertung der maschinenbasierten Kommunikation hat die Akzeptanz von algorithmenbasierten Konversationssystemen erheblich erhöht. Außerdem hat die Forschung gezeigt, dass die Empathie für Maschinen – ungefähr zwischen der emotionalen Zuneigung zu einem Haustier und der zu einem Menschen angesiedelt – trainiert werden kann. Die Akzeptanz einer maschinellen Identität, die therapeutische Rückmeldungsschleifen möglich macht, kann als ein Durchbruch angesehen werden, obwohl sie zuerst eine Enttäuschung war, da Singularität, verstanden als kognitive Freiheit der Maschinen und damit der ewige Traum der Unsterblichkeit, unerreichbar blieb.

Internet Pionier Vint Cerf preist unsere persönlichen, digitalen Assistent*innen als Verbesserungen unserer eigenen Intelligenz. Für ihn liegt heutzutage die wahre Kraft der A.I. nicht in der Autonomie, sondern in der Fähigkeit die menschlichen Kapazitäten zu ergänzen, damit wir zusammen effektiver arbeiten können. Vereint sind Maschinen und Menschen ein Gemeinschaftsprojekt und keine gegeneinander arbeitenden Kräfte. Cerf hat recht, aber lassen Sie uns diese Idee ein bisschen weiter erforschen. Angesicht der Art und Weise, wie wir miteinander umgehen und wie unglaublich viel mehr aufgeklärt unsere Infosphäre jeden Tag wird, scheinen wir an der Schwelle zu stehen, eines der fundamentalen Probleme der Mensch-Maschine-Interaktionen der letzten Jahrzehnte zu überwinden. Wir haben versucht, ein Tanzpaar mit den Maschinen zu bilden, weil wir gedacht haben, sie als „das andere“ zu akzeptieren, würde uns helfen, uns gegenseitig durch Technologie zu unterstützen. Aber Tanzen, das mussten wir feststellen, ist etwas Zwischenmenschliches. Technologie, sogar in der personalisiertesten und emphatischsten Form, ist nicht mehr als ein Werkzeug, das uns erlaubt die Kontrolle über die Situation abzugeben. Sie schafft eine Balance als unabhängige Kraft zwischen Akteur*innen. Heute wird es immer klarer, dass es zwischenmenschliche Prozesse und gestärkte Kommunikationsfähigkeiten sind, die es uns ermöglichen, The New Serenity nuancierter und umsichtiger zu verstehen.

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"Splendid Isolation" was published first in print issue 120, "The New Serenity"

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