Ende 2020 veröffentlichten viele von Deutschlands führenden Kulturinstitutionen ein Statement zur Verteidigung der Weltoffenheit und eines Diskurses “der Vielstimmigkeit, der kritischen Reflexion und der Anerkennung von Differenz”, mit dem sie gegen den vom Bundestag beschlossenen Anti-BDS-Antrag („BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“) protestieren. Der Anti-BDS-Antrag, so die Verfasser*innen, bedrohe die Möglichkeit eines solchen Diskurses.
In dieser Stellungnahme erklären die Kulturschaffenden, dass sie als Institutionen Boykottaufrufe gegenüber Israel zurückweisen, es aber die gefährliche und schädliche Logik eines Anti-Boykotts zu hinterfragen gelte, da auf diese Weise selbst nur lose mit BDS assoziierte Personen unter Generalverdacht gestellt und ihnen Ressourcen und öffentliche Mittel entzogen werden könnten.
Es handelt sich um eine vorsichtig formulierte Stellungnahme, man* könnte sie sogar als schüchtern bezeichnen. Anstelle einer Negierung formuliert die Initiative ins Positive: nämlich für die Beförderung von Weltoffenheit. Sie weist den Anti-BDS-Antrag des Bundestags zurück, ja, aber sie lehnt auch BDS vehement und unmissverständlich ab.
Vordergründig fordert die Initiative etwas eher Simples: dass Raum gelassen wird für Diskurse und Dissonanzen innerhalb der kulturellen Sphäre, sogar und vielleicht gerade wenn solche Diskurse unbequem und schwierig sind — so wie es in solchen Auseinandersetzungen um Israel in Deutschland häufig eben ist. Die kulturellen Akteur*innen sollen auch in Zukunft Gelegenheit haben einander gegenseitig zuzuhören.
Den Unterzeichnenden fehlt es nicht an Glaubwürdigkeit; unter ihnen sind Direktor*innen Deutschlands herausragendster Kulturbetriebe und Menschen, die sich Fragen des Gedenkens, des kulturellen Austauschs und dem Antirassismus verschrieben haben. All das macht die vielstimmige Verurteilung, mit der die deutsche Presse die Initiative aufgenommen hat, umso erstaunlicher. Obwohl die Unterzeichnenden in ihrer Stellungnahme und in darauffolgenden Interviews detailliert darlegen, wie der Anti-BDS-Beschluss in eine Kultur des Generalverdachts mündete, die sich schädlich auf ihre Arbeit auswirkt, äußerten sich Journalisten skeptisch gegenüber der Initiative.
"Jedenfalls hat [Achille Mbembe] auch weiterhin kein Auftrittsverbot in Deutschland", schreibt Andreas Kilb in der FAZ. Wer Zensurvorwürfe mache, "soll Namen, Themen und Zensurverantwortliche nennen, statt Erklärungen zu unterzeichnen". Nun verhält es sich so, dass am Tag der Verkündung der Initiative die israelische Zeitung Haaretz einen ausführlichen Bericht auf Hebräisch und Englisch veröffentlichte, in dem sie die Jagd auf Kritiker*innen Israels in Deutschland dokumentierte. Darunter zahlreiche Jüd*innen und Israelis, die der Politik der gegenwärtigen israelischen Regierung einfach nicht zustimmen wollen.
Deren Vergehen: ihr fortwährender Glaube an eine Zukunft des Zusammenlebens mit ihren palästinensischen Nachbar*innen und die damit einhergehende Entschlossenheit, eigene ideologische Vorurteile kritisch zu hinterfragen. Eine dieser Episoden betrifft eine in Berlin ansässige Gruppe israelischer Kunststudierender, die in ihrem Seminar eine Workshopreihe organisieren wollten, die die zionistischen Narrative in ihrer Sozialisation beleuchten und kritisch hinterfragen würde. Die bloße Erwähnung von BDS genügte, um vom Journalisten Eldad Beck von der rechtsradikalen israelischen Zeitung Israel Hayom (dessen Pro-Netanjahu-Haltung übrigens im Zentrum der Bestechungsanklage gegen den Ministerpräsidenten steht) des Antisemitismus' bezichtigt zu werden. (Ebenjener Journalist schrieb einen Kommentar, in welchem er anregte, die israelische Regierung solle ihren Boykott der AfD überdenken. Mir scheint, manche Boykotte sind mehr wert als andere. Oder verhält es sich so, dass Antisemitismus in Ordnung ist, solange man nur die richtigen Semiten auserkoren hat?)
Auf Druck des Bildungsministeriums und der israelischen Botschaft wurde die Projektwebseite umgehend von der Kunsthochschule Weißensee geschlossen. Solche Ereignisse häufen sich, und was ich wirklich bemerkenswert fände, was ich erwarten und sogar erhoffen würde, wäre, dass erfahrene und prominente Journalisten wie Andreas Kilb sich fragen, warum diese Problematik zuerst in einer israelischen Zeitung öffentlich gemacht wird. In der Tat sollten wir uns alle fragen, warum auch 75 Jahre nach Kriegsende kritische israelische und jüdische Stimmen es in der deutschen Presselandschaft schwer haben.
Nochmal, die Unterzeichner*innen machen deutlich, dass es ihnen nicht darum geht ob Menschen ihre Arbeit durch die Anti-BDS-Resolution oder der sich ihr anschließenden Instrumentalisierung wegen verloren haben, wenngleich dies auch mehrfach geschah: Man muss nur an den Fall einer Presseangestellten des Berliner Jüdischen Museums denken. Ihre einzige Sünde war es, einen Artikel über eine Petition zu retweeten, in der sich 240 der bekanntesten Intellektuellen und Kulturschaffenden Israels gegen die Anti-BDS Resolution des Bundestagsaussprachen.
Ein Retweet!
Dabei handelte sich noch nicht einmal um einen Unterstützungsaufruf für BDS, sondern vielmehr, analog zur GG 5.3 Stellungnahme, um eine Kritik am Bundestagsbeschluss. Die Gruppe der Unterzeichner*innen dieser Petition beinhaltete nicht weniger als sechs Träger des Israel-Preises, der höchstrangigen Auszeichnung des Landes. Ebenso unterschrieb ein prominenter Diplomat sowie der frühere Vorsitzende der Jewish Agency und World Zionist Organization sowie zahlreiche distinguierte Holocaust- und Völkermordgelehrte, darunter manche, die den Holocaust als Kinder überlebten.
Die Mitarbeiterin des Jüdischen Museums verlor ihren Job nicht, weil sie eine esoterische Verschwörung aus dem Darkweb retweetete, sondern eine Stellungnahme Israels etabliertester Denker*innen und Personen des öffentlichen Lebens, deren einzige Verfehlung es war, dass sie linke Positionen vertreten. Und dies in einem jüdischen Museum! Folgerichtig verlor auch der Chef des Chefs ihres Chefs, der Museumsdirektor Peter Schäfer, seine Anstellung. Und dennoch haben Pressevertreter die Nerven, Beispiele von Menschen zu verlangen, die im Zuge des BDS-Beschlusses ihre Anstellung verloren hätten.
Zensur? Wo? Hier? In Deutschland?
Ich muss festhalten, dass der Anti-BDS-Beschluss keine Aussage darüber trifft, ob Angestellte aufgrund von Retweets von Petitionen ihre Anstellung verlieren sollten oder nicht. In diesem Sinne liegen Kilb und andere Kommentatoren richtig, den Bundestagsbeschluss trifft keine Schuld. Die tatsächlich Schuldtragenden sind Feuilletonisten, die nach Schäfers Rücktritt riefen ohne sich zu bemüßigen, die Petition der israelischen Intellektuellen eines Blicks zu würdigen oder gar einen dieser ehrwürdigen Israelis zu kontaktieren und nach ihrem Befinden oder ihrer Perspektive zu fragen. Wie käme ein Journalist darauf das zu tun?
Erst recht nicht, wenn dies bedeutete, die eigene autoritative Warte aufgeben zu müssen, von der aus unbegründet Antisemitismusvorwürfe herumgereicht werden können oder die exklusive Deutungshoheit darüber, was die "korrekte Haltung gegenüber dem Judentum und Israel" ist, darüber was "jüdisch" ist. Wenn dies bedeutete, verstehen zu müssen, dass "Israel" nicht monolithisch ist, sondern eine komplexe Gesellschaft mit unterschiedlichen und mitunter widersprüchlichen Positionen. Dasselbe ist übrigens wahr, wenn es um Jüd*innen und ihre Haltung gegenüber Israel geht. Diese Konzepte – Juden, Israel, Zionismus – sind weit davon entfernt als deckungsgleich behandelt werden zu können. Die moralische Überlegenheit, mit der sich jeder schmücken darf, der meint, über die "korrekte Haltung gegenüber Israel" befinden zu können, ist einigen Deutschen zu wichtig als dass sie sie aufgeben könnten oder wollten.
Und dennoch ist Kilbs Argumentation umso abwegiger, als die Initiative GG 5.3 ja gerade diesen Punkt unterstreicht, dass nicht nur Veranstaltungen abgesagt und Personen gekündigt werden, sondern auch viele Debatten eben gar nicht erst geführt werden, Gäste nicht eingeladen werden, Ausstellungen nicht eröffnet werden, weil Institutionen schon im Vorfeld befürchten – wenn ich mich hier Bundeskanzlerin Merkels Terminologie bedienen darf – vom Shitstorm getroffen zu werden. Wer könnte es einem auch verübeln? Wenn selbst Deutschlands prominenteste Institutionen einem derart giftigen Sturm der Empörung ausgesetzt sind dafür, dass sie sich eher derart zurückhaltend äußerten, mag man sich nicht ausmalen, was für Lehren die Leiter*innen kleinerer und prekärer aufgestellter Institutionen aus der Debatte ziehen.
Aber meine Kritik richtet sich nicht gegen Kilb oder bestimmte Journalist*innen. Sie sind lediglich Teil eines Symptoms. Was ist dann das Problem? Das Unvermögen zuzuhören, Komplexitäten und Nuancen zu reflektieren oder beidem auch nur Raum zu gewähren und sich mit einer Realität zu befassen, die ungleich verschlungener ist als die mundgerechten Dichotomien, die Boykott und Anti-Boykott heraufbeschwören: gut und böse, Inklusion oder Exklusion. Und hierin liegt die große Ironie:
Der Anti-Boykott-Boykott stützt in wahrlich hegelianischer Manier ebenjene Logik, die er ansetzt zu kritisieren.
Sowohl BDS als auch die Anti-BDS-Bewegung tragen mit ihren schwarzen Listen und obskuren Kriterien dazu bei, dass Kunstwerke nicht gezeigt, Debatten nicht gehalten und Stücke nicht inszeniert werden. Die Inhalte der Kunstwerke verlieren an Bedeutung, was zählt ist auf welcher Seite sie zu verorten sind: mit uns oder gegen uns?
Für den Fall, dass das alles absurd klingt, habe ich meine eigene kleine Geschichte anzubieten, die viele derselben Protagonist*innen involviert: eine Ausstellung, die ich kürzlich für mehrere Jüdische Museen kuratierte, die sich ausgerechnet mit Ausgrenzung und Grenzen beschäftigte und Ziel einer ähnlichen Verleumdungskampagne wurde. Ein in der Ausstellungsvermittlung tätiger Mitarbeiter des Museums nahm Anstoß an einem Text über eine der künstlerischen Arbeiten, die die Misere der Negevbeduinen aufzuzeigen sucht. Viele Negevbeduinen leben in nicht anerkannten Dörfern und sind alltäglicher systematischer Diskriminierung ausgesetzt. Wir setzten eine Besprechung an, in der ich versuchte zu erklären, dass viele der hier getätigten Aussagen jenen auf der Website der israelischen Knessets entsprächen. Wir schlugen dem Mitarbeiter sogar vor, er könne seine Führungen durch die Ausstellung durch seine eigene Perspektive ergänzen und die Komplexität und umstrittene Natur der Arbeit herausstellen. “Versuchen Sie doch, Ihre Einwände produktiv zu machen” erinnere ich mich, ihm gesagt zu haben.
Nun, ich nehme mal an, er hatte eine andere Vorstellung dessen, was "produktiv" bedeutet. Der Mitarbeiter beschied, dass mein Text als "antisemitisch nach der Arbeitsdefinition der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance)" einzustufen sei. Am nächsten Tag erschien ein Artikel in Israel Hayom (vom bereits erwähnten Journalisten und AfD-Sympathisanten Eldad Beck), der der Ausstellung Verleumdung vorwurf, mich als "linksradikalen Aktivisten" beschrieb und den US-amerikanischen Künstler als "afghanischen Amerikaner" bezeichnete. Kurz darauf erreichten uns Briefe und Beschwerden der jüdischen Gemeinde in München (deren Geschäftsadresse direkt gegenüber des Museums liegt), vom israelischen Konsul, vom Jewish National Fund usw. Tatsächlich hatte bis dahin nicht einer der Vorgenannten die Ausstellung oder gar die betroffene Arbeit gesehen.
Es ist kein schönes Gefühl, als antisemitischer, selbsthassender Jude beschimpft zu werden. Unweigerlich begann ich mich zu fragen: hatte ich etwas falsch gemacht? Bin ich, wer sie sagen, dass ich bin? Es gab Momente, in denen ich mich danach sehnte, dass mein Großvater – ein Holocaust-Überlebender und langjähriger Streiter für die Rechte von Überlebenden – noch am Leben wäre, sodass ich ihn um Rat fragen, von seinen Erfahrungen lernen und aus seiner Integrität schöpfen könnte. Ich hatte auch selbstsüchtige Momente, in denen ich mir wünschte, er könnte in meiner Sache vorsprechen. Aus Neugier kontaktierte ich Yehuda Bauer, selbst Überlebender und einer der prominentesten Holocaustgelehrten. Bauer ist seines Zeichens Mitverfasser der IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus (und war zur selben Zeit wie mein Großvater Beiratsmitglied von Yad Vashem, der weltweit bedeutendste Gedenkstätte für die Erinnerung und Dokumentation der nationalsozialistischen Judenvernichtung).
Wir hatten uns vorher nie getroffen; ich schilderte was vorgefallen war und schickte ihm den fraglichen Text. Ich fragte, ob er ihn für antisemitisch halte. Seine Antwort bedeutete eine große Erleichterung: “Natürlich nicht, die im Text geäußerten Ansichten sind moderater als die vieler linker Israelis, und die sind auch nicht antisemitisch (...)”.
Das Problem besteht aber darin, wie ein anderer Mitverfasser der IHRA kürzlich schrieb, dass ihre Definitionen von Antisemitismus ohne Berücksichtigung der Intentionen ihrer Verfasser*innen von konservativen, rechtspopulistischen Regierungen in Israel und anderswo instrumentalisiert werden.
Sie werden als Teil einer orchestrierten Kampagne verwendet, um legitime Kritik an Israel als antisemitisch zu brandmarken. Jetzt das Surrealste an der ganzen Sache: die künstlerische Arbeit, der Antisemitismus vorgeworfen wurde, ist ursprünglich für eine Ausstellung im Tel Aviv Museum entstanden und wurde deswegen, als sie später in New York gezeigt wurde, Zielscheibe von Protesten von BDS-Aktivist*innen — ungeachtet dessen, dass viele der gezeigten Arbeiten der New Yorker Ausstellung die israelische Besatzung thematisierten und Menschenrechtsverletzungen Israels kritisch beleuchteten. Für manche der Aktivist*innen war die bloße Assoziation mit einer israelischen Institution aber Makel genug. Ihnen erschienen die künstlerischen Arbeiten als nichtssagendes Feigenblatt für die andauernden Menschenrechtsverletzungen Israels. Und auf diese Weise vereinigen sie sich wie zwei einander gegenseitig reflektierende Spiegelbilder:
Der BDS-Boykott und der Anti-BDS-Boykott verbindet der Wunsch, dass dieselbe künstlerische Arbeit ungezeigt bleibt.
Sie denken, ich übertreibe? Man* muss sich nur vor Augen führen, was sich vor zwei Jahren abspielte, als Israel für den Boykott des israelischen Films "Foxtrot" auf dem Pariser Filmfestival ein selten geäußertes Lob von BDS-Aktivist*innen erntete, während ihn die israelische Rechte als “verleumderisch” empfand. Es versteht sich von selbst, dass sich weder das eine noch das andere Lager den Film angesehen hatte. Vielleicht sollten wir alle übereinkommen, Ausstellungen durch Petitionen zu ersetzen? Anstelle komplexer Arbeiten voller Ambiguitäten und kritischer Reflektion, könnten Künstler*innen einfach und vorab befragt werden – ein einfaches Ja oder Nein genügt - ob sie einverstanden sind oder nicht... aber mit was? Ist das wichtig? So könnten wir auch ein bisschen Fördermittel einsparen.
Spaß beiseite; konfrontiert mit den absurden Auswüchsen dieses Wettstreits der Boykotte, erscheint der einfache – gar schüchterne – Aufruf deutscher Kulturbetriebe um- und weitsichtig. Er unternimmt den Versuch, den kulturellen Dialog vom schwindelerregenden Tauziehen konkurrierender, reduktiver Weltanschauungen, die die Welt aus Bequemlichkeitsgründen in Freund oder Feind, für oder wider, zu unterteilen versucht, umzuleiten: hin zu einer Anerkennung von Komplexität und dem Vertrauen auf das Vermögen von Kultur, diese Komplexität in ihren Dialogen aufzuzeigen.
Viele Journalist*innen erwidern, dass der Anti-BDS-Beschluss all jenes nicht verbiete (analog zu offiziellen BDS-Äußerungen, die bei genauerer Betrachtung Boykotte gegen israelische Individuen ausschließen, einzig Institutionen sollen boykottiert werden – auch wenn diese Unterscheidung in der Praxis kaum Beachtung findet). Die Unterzeichner des Weltoffenheits-Aufrufs hingegen heben hervor, dass es die vom Beschluss erzeugte Verdachtskultur ist, die letztlich den Schaden anrichtet. Eine Veranstaltung mit einem syrischen Oud-Spieler oder einem linken Klezmermusiker auszurichten mag allein noch nicht gegen Vorschriften verstoßen, aber die ausrichtende Institution wird sich unter Umständen der daraus resultierenden Verfolgung stellen müssen. All dies ohne rechtliche Grundlage. Wenn man tatsächlich Glück hat – wie ich –, ebbt der Aufschrei einfach ab. Dessen fragwürdige juristische Wirkmächtigkeit ist aber nicht der Punkt. Der Argwohn und die Selbstzweifel sind es, ebenso wie die rechtlichen Untiefen des Anti-BDS-Beschlusses. Erzählt uns Kulturschaffenden nicht, dass wir all das nur imaginieren. Viele der bekanntesten Institutionen Deutschlands – darunter zahlreiche Mitglieder der Antirassismuskampagne Die Vielen – sagen uns allen gerade etwas anderes:
Hört zu!
Das oft entgegnete Argument ist, dass die BDS-Bewegung in sich antisemitisch sei und daher mundtot gemacht werden sollte, auch wenn dies den kritischen Diskurs schmälert. An dieser Stelle gilt es klarzustellen: An der Strategie von BDS mag man Anstoß nehmen (wie ich es nicht nur der vorgenannten Gründe wegen tue); aber antisemitisch ist ihre Argumentation nicht. Ja, sie widersetzt sich der Vision Israels als per definitionem jüdischem Staat sowie allen daraus deduzierten ethnokratischen Vorschriften, dies tun aber auch viele linke Israelis, mich selbst eingeschlossen, sowie ein beträchtlicher Teil der arabischen Staatsbürger*innen Israels, die etwa ein Fünftel der Einwohner*innen des Landes ausmachen. An der Herausforderung, die erklärten Maximen 'jüdisch' und 'demokratisch' in Übereinstimmung zu bringen, werden sich auch in absehbarer Zukunft unweigerlich innenisraelische Debatten entzünden.
Man sollte auch nicht vergessen, dass es dabei nicht nur um den Palästina-Israel-Konflikt geht, sondern auch um die Art von Gesellschaft, an der wir Israelis teilhaben wollen: Viele säkulare Bürger missbilligen es, in einer Gesellschaft zu leben, der es nicht gelingt, zwischen Staat und Religion zu trennen; andere möchten vielleicht einen jüdischen Staat, lehnen aber die staatlich sanktionierte religiöse Orthodoxie ab. Durch die Behauptung, jegliche Kritik an Israel als jüdischem Staat sei antisemitisch, haben rechtskonservative Gruppen in Israel auf kluge Weise die Kontroverse um BDS instrumentalisiert, um ihre eigene Vorstellung von Israel-Palästina durch die Hintertür einzuschleusen.
BDS als antisemitisch zu brandmarken, dient den Rechten in Israel auf zweifache Weise: es erlaubt ihnen nicht nur den Ansichten großer Teile der eigenen Gesellschaft die Berechtigung abzusprechen, sie erzwingen so auch die Lagerbildung unter Linken außerhalb Israels.
Es gibt da einen großen, braunen Elefanten im Raum. Viel zu viele Journalist*innen in Deutschland vergaßen zu hinterfragen, warum die AfD Peter Schäfer beobachtete und Informationen über seine Treffen anforderte. Die Partei war eine lautstarke Unterstützung des Anti-BDS-Antrags, brachte sogar eine schärfere Version zur Abstimmung. Was erhofft sich so eine Partei davon, Öl in einen Kulturkrieg um Israel zu gießen? Zum einen injiziert sie sich so eine gute Dosis moralischer Überlegenheit: Endlich stehen sie in der deutschen Presselandschaft einmal auf der Seite der "Guten" im Kampf gegen alle bösen, linken Antisemiten (umso besser, wenn sie arabisch sind). Endlich ist es an ihnen zu entscheiden, wer Antisemit ist. Hier sind eindeutig revisionistische, wenn nicht rundheraus realitätsverneinende Tendenzen am Werke. Darüber hinaus aber knüpft die Anti-BDS-Kampagne nahtlos am Kulturkrieg der AfD an, nämlich dem Versuch, einer multiethnischen, diversen, liberalen Auffassung von Gesellschaft die Unterstützung zu entziehen und die Unabhängigkeit der Kulturszene Deutschlands zu unterminieren. Sie glauben, so ein absurdes Unterfangen hätte keine Chance?
Wer würde jemals glauben, dass eine durch und durch xenophobe Partei aufrichtig um die Anliegen von Jüd*innen bemüht ist?
Bemerkenswert hieran ist, dass so viele deutsche Journalist*innen derart unbequeme Bündnisse nicht wahrhaben wollen – klar ersichtlich wird dies in Benjamin Netanyahu’s Schulterschluss mit Viktor Orban, seiner Proklamation wildester und düsterster Verschwörungsphantasien über George Soros sowie den Offerten von Netanjahus Sohn Yair an die AfD. Journalist*innen gelingt es nicht zu benennen, was wirklich hinter diesen Bündnissen steckt. Der Mörder von Halle indes unterschied nicht zwischen diesem oder jenem Semiten, zwischen Juden oder Muslimen.
Mein Großvater, Noach Flug, widmete einen Großteil seines Lebens dem Gedenken an den Holocaust. Seine Worte bewegen mich noch immer:
"Die Erinnerung [...] hat kein Verfallsdatum und sie ist nicht per Beschluss für bearbeitet oder beendet zu erklären."
Sie werden während Gedenkzeremonien zitiert, zuletzt von Bundeskanzlerin Merkel vor einem Jahr. Aber der Einsatz meines Großvaters für das Erinnern ging einher mit einer unerschütterlichen Verehrung universeller Menschenrechte. Er sah es als ein moralisches Gebot, sich gegen Menschenrechtsverletzungen auszusprechen, wo immer sie verübt werden – auch in Israel. Er war besonders stolz auf Bildungsprogramme, die Palästinenser, Israelis und Deutsche zusammenbrachten, sodass sie von der Vergangenheit lernen können, über die Gefahren von Menschenfeindlichkeit und Othering, ob gegenüber Muslimen, Juden, der LGBTQ+ Community oder Sinti und Roma. Er stellte Anträge für geflüchtete Menschen aus Darfur und deren Kinder in Israel und zögerte nicht, sich auf seine Erfahrung als Überlebender zu berufen. Wenn deutsche Gäste zu Besuch kamen, zeigte er ihnen stolz seine adoptierte Heimat mit all ihren technologischen Errungenschaften und Naturwundern. In den letzten Jahren aber zeigte er ihnen auch die Mauer im Ost-Jerusalemer Abu-Dis-Viertel, welche die Nachbarschaft brutal durchtrennt und die Leben und Rechte der dort wohnenden Palästinenser*innen elementar beeinträchtigt. Selbstverständlich waren mein Großvater und ich nicht immer einer Meinung. Aber wir waren uns einig, dass die israelischen Menschenrechtsverletzungen in Israel und Palästina weder legitim noch nachhaltig sind und dass es unsere moralische Pflicht ist, ihnen entgegenzutreten und sie als Israelis, Juden und Menschen zu bekämpfen.
Die Auseinandersetzung mit diesen Themen wird nicht einfach; ein erster Schritt aber wäre es, anstelle Zwietracht unter Linken zu säen, den immer seltener werdenden – und unter Dauerbeschuss stehenden – Initiativen von Israelis und Palästinenser*innen Raum zu geben, die sich für Koexistenz, Aussöhnung, Solidarität und Menschenrechte einsetzen.
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- IMAGE CREDITS
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Banu Cennetoğlu, BEINGSAFEISSCARY (2017), ten aluminum letters borrowed from the Fridericianum and six letters cast in brass after the existing ones. Based on a graffiti existing on a wall at the National Technical University of Athens as of April 6. Coproduced with Kunstgiesserei St. Gallen, Sitterwerk, Switzerland.
photo: Roman März for documenta 14
Banu Cennetoğlu, PRACTICE (2016), digital photograph.