Wir begrüßen unsere Leser*innen nun aus einem neuen Jahr, indem alle hoffen, dass es besser wird. Einen Neustart hat die Welt wohl eindeutig nötig und in dieser Übergangsphase zwischen den Jahren erkennen wir auch, was 2020 mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. 2020 jährte sich nämlich, neben Beethovens 250. Geburtstag und 100 Jahren Salzburger Festspiele, auch das Ende des zweiten Weltkrieges zum 75. Mal.
Alina Kolar hat Gunter Demnig neulich zu seinen Stolpersteinen befragt. Im Gespräch mit Lara Verena Bellenghi werden ihre eigenen und auch deren gemeinsame Spaziergänge durch Wien, Berlin, Venedig, Mailand, Rom und Turin in Erinnerung gerufen. Es folgt ein Beitrag zu Wegen, die an Stolpersteinen vorbeiführen und ein Ausblick wohin diese Topographie führen kann.
Alina Kolar: Stolpersteine (Wege der Erinnerung) wurden 1992 von Gunter Demnig in die Welt gerufen. Die ersten Steine wurden illegal gesetzt, weil es damals noch keine Genehmigungen für sie gab. Da stellt sich die Frage: Wo sieht man heute das Potenzial etwas Illegales zu tun, das sich zu etwas Legalem transformieren lässt? In unserer pandemischen Zeit sind die Risiken dass Rechtsradikale, QAnon und sogar Staaten, die sich dieses Potential zu eigen machen, groß. Ich würde an dieser Stelle gerne das Josef Weinheber Denkmal auf dem Wiener Schillerplatz erwähnen. Dieses wurde von Künstlern (rund um und mit Eduard Freudmann) in einer Nacht und Nebel Aktion ausgehoben, weil es vorab keine Bewilligung gab. Die Aktion wurde revidiert, der Nazi Weinheber wieder "einbetoniert".
Erst nach jahrelangen Bemühungen hat die Stadt Wien die Freilegung legal realisiert. Was muss sich tun, um die Bürokratie zu einem Umdenken zu bewegen und die notwendigen Veränderungen im öffentlichen Raum zu ermöglichen, sodass sich alle auf den Straßen der Welt aufgehoben und ernst genommen fühlen? Vielleicht beginnt es mit der Benennung dessen, was lange versteckt lag, beziehungsweise bewusst verdrängt wurde.
Lara Verena Bellenghi: Was sich wohl tun muss - und musste - ist neben der Benennung eindeutiger Tatsachen auch viel Archivarbeit. Arbeit also, die von einer eingefahrenen Bürokratie als zusätzliche Last - abgesehen von den offensichtlichen Unannehmlichkeiten der Thematik - empfunden wurde. Diese Aufarbeitung ist notwendig, um aus ihr Bildung und Kunst gewinnen zu können. Gunter Demnig hat hierzu maßgeblich beigetragen. In Städten wie Wien und Berlin sieht man mittlerweile flächenartige Auslegungen der Stolpersteine. Das verbildlicht etwas näher das Ausmaß der Deportationen.
In Wien muss ich hier an die Servitengasse denken. Seit 2018 befindet sich dort eine im Boden eingelassene Vertiefung mit hunderten Schlüsseln, die einst die Türen zu Wohnungen und Geschäften jüdischer Händler aufsperrten. Jüdische Familien, die es sich leisten konnten, sind um die 1900 Jahrundertwende von der gegenüberliegenden Seite des Donaukanals (2. und 20. Bezirk) auf die vornehmere Uferseite übersiedelt (Arnold Schönberg, im 20. Bezirk nahe des Donaukanals geboren, ist hierfür exemplarisch).
Gelungen finde ich die Platzierung des Gedenkortes in der Servitengasse vor der Servitenkirche. Der Mangel an Stolpersteinen, die sehr späte Einführung dieses Gedenkortes und die Präsenz der Kirche scheint Bände zu sprechen: hat man sich hier geweigert den Fußgängern auf jedem Schritt die düstere Geschichte der Jahre 1938-45 vor Augen zu führen und sich anstelle der Stolpersteine für ein Denkmal und eine Gedenktafel entschlossen?
AK: Verteilte Stolpersteine oder massive Monumente haben unterschiedliche Wirkungen, sind aber beide ausdrucksstark. Die Landkarte, die sich aus den mittlerweile gesetzten Stolpersteinen zeichnen lässt, hat sich in das Bewusstsein der Bevölkerung eingeprägt. Dieses multinationale Mahnmal ist Vielen bekannt. Die Geste die Steine in den Boden zu setzen stellt auch die Frage wem dieser Boden gehört. Demnigs Aktionen kreieren eine Gemeinschaft und würdigen gleichzeitig betroffene Individuen. Die Arbeit schafft Bewusstsein, indem sie aus dem Stadt-Raum einen Lebens-Raum macht und auf die darin enthaltene Geschichte verweist. So verschmelzen einzelne Schicksale und kollektive Wahrnehmung.
LVB: Die Wahrnehmung stößt dennoch nach wie vor immer wieder auf Unmut und auch Ungeduld. Man folgt dann dem Motto, es sei ohnehin nichts mehr zu ändern…
AK: Vieles lässt sich tatsächlich nicht wieder gut machen, Restitutionsangelegenheiten scheinen mit der Zeit immer komplizierter zu werden. Stellt sich also die Frage: wie gehen wir heute mit Enteignung und Geschichten des Displacement um? Was braucht unsere Gesellschaft um Geschichte(n) nicht zu vergessen, mit ihr zu leben und, vor allem, aus ihr zu lernen?
LVB: Es bedarf stetiger Erzählung und Erinnerung an Biografien aus denen die Menschheit ihre Lehren wird ziehen können. Die europäische Literatur des 20. Jahrhunderts ist diesbezüglich besonders fruchtbarer Boden. In ihr verfließen nämlich individuelle Biografien mit konkreten, meist städtischen, Räumen. Wir erkennen in ihr Stadt-Räume als eigentliche Lebens-Räume, die Du eben erwähntest.
Im Wien der 1900-Jahrhundertwende lebten viele Schriftsteller und Wissenschaftler jüdischer Herkunft; Leo Perutz zum Beispiel wohnte bis 1938 in der Gegend Sigmund Freuds (Porzellangasse). Vor der Villa Stefan Zweigs auf dem Kapuzinerberg in Salzburg sind seit 2016 Stolpersteine im Asphalt eingelegt. Die Liste solcher Beispiele ist lang.
Manchmal stehen Stolpersteine für Auswanderung, meistens aber für bestätigten Tod in Lagern oder für den Weg dorthin. Es sind diese Informationen, die wir als Fußgänger mitnehmen und, so erkennen, dass der Ursprung großen Übels sehr wohl unter uns sein mag.
Der Fall Stefan Zweigs ist vielleicht vergleichbar mit dem Primo Levis. Zweig wählte den Freitod im Exil 1942. Levi überlebte zwar den Krieg und Auschwitz, nahm sich aber später auch das Leben. Ob es in Turin vor seinem Haus einen Stolperstein gibt... ? In der Stadt scheint man sich - wohl wegen Levi und auch Natalia Ginzburg - aktiver für Demnigs Initiative eingesetzt zu haben als in anderen italienischen Städten. Vielleicht sah es mit Ferrara ähnlich aus. Vittorio de Sicas 1970 erschienener Film Il Giardino dei Finzi Contini (Der Garten der Finzi Contini) hat maßgeblich zur Aufklärung über den Nazi-Faschismus in Italien beigetragen.
Das hat wohl mit bestimmten Regionen zu tun, zumal diese Gegend (Emilia Romagna) die rote Hochburg des Widerstandes gewesen ist. In Rom hingegen sind vor allem im Umkreis des Ghettos Stolpersteine gelegt worden, wodurch eine klare Verbindung zwischen Stadtzentrum und ‚fernem Terrain‘ gezeichnet wurde. Denn hunderte Deportierte und Gefangengenommene aus Wohnhäusern in Rom wurden Opfer des sogenannten Massakers der Ardeatinischen Höhlen (Fosse Ardeatine), der Rache der Nazionalsozialisten an der größten Widerstandsattacke in Italien, in der via Rasella.
Stolperstein in Berlin-Wedding. Courtesy Hans Loeffler, 2020
Es ist unheimlich, wenn man bedenkt, wie wir heute den Spaziergängen Zweigs, Levis, Freuds nachgehen können und sich dabei die Stolpersteine wie automatisch unter unsere Füße mischen. Wir werden auf diesen Schritten an das tragische Wechselspiel zwischen Kultur und Zäsur erinnert.
AK: Gut möglich, dass dieses unbequeme Gefühl - das Unheimliche - für laufenden Widerstand gegenüber Demnigs Projekt verantwortlich ist. Ausgerechnet in München gibt es keine Stolpersteine... dafür aber seit 2015 das NS Dokumentationszentrum. Ein ausgleichendes Manöver?
LVB: Bei so vielen Fragen bedarf es laufender Diskurse, durch welche Demnigs Initiative als notwendiger Beitrag zur Geschichtsschreibung verstanden werden kann. Jeder ist dazu aufgerufen mitzureden und mitzudenken, damit Missverständnisse vermieden werden und die Geschichte wahrheitsgetreu weitergetragen wird. Sie mit Füßen zu treten ist, wie wir wissen, keine so gute Idee. Ich selbst kann nicht auf einen einzigen Stolperstein steigen…
AK: Ich auch nicht, obwohl Demnig selbst meint das poliert die Steine und hat damit etwas Positives. Es kommt am Ende immer auf den Umgang mit der Symbolik im Alltag an.
Lara Verena Bellenghi, Pietre d'Inciampo, Ghetto Roma, 2016. Courtesy der Autorin.