„Typologien“ – der Titel wirkt beinahe ironisch, wenn man Susanne Pfeffers bisherige kuratorische Praxis kennt, die sich konsequent gegen starre Zuschreibungen, gegen Klassifikationen und institutionelle Routinen gestellt hat. Warum die Direktorin des MMK in Frankfurt diesen Begriff nun ins Zentrum ihrer Überlegungen rückt, haben wir mit ihr reflektiert – im Gespräch über Institution und Autonomie, über Widerspruch, die Konfrontation mit einer partikularen Vergangenheit, über Form, Gewalt, Anordnung und die Politik des Zeigens.
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Ging es dir bei „Typologien“ um Aneignung, um Sabotage – oder um eine andere Art von Präzision?
Die Fondazione Prada hat mich eingeladen, eine Ausstellung zur Fotografie der Düsseldorfer Schule zu machen, was mich sofort interessierte. Bei genauer Beschäftigung wurde mir klar, dass neben Bernd und Hilla Becher auch viele ihrer Schüler*innen angefangen haben, Typologien zu erstellen. Mit dem Blick auf Künstler wie Karl Blossfeldt oder August Sander erschien es mir interessant, dieses Phänomen, was die deutsche Fotografie im 20. Jahrhundert geprägt hat, genauer zu betrachten.
Der Begriff der Typologie stammt ursprünglich aus der Biologie. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden Typologien erstellt, um Pflanzen zu kategorisieren. Karl Blossfeldt war der erste, der diese Methodik in die Fotografie überführte. Seine über 600 angefertigten Fotos dokumentierten Pflanzen auf eine bis dahin noch nie vom menschlichen Auge gesehenen Art und Weise. Er entwickelte eine Vergrößerungstechnik, mit der er die Pflanzen vor einen weißen Hintergrund stellte und damit deren Formenvielfalt und Architektonik präzise herausarbeitete.
August Sander hat zunächst mit seinem Buch Antlitz der Zeit und später mit seinem Projekt Menschen des 20. Jahrhunderts versucht, eine Gesellschaft zu porträtieren, indem er sie anhand ihrer Tätigkeiten, Herkunft und Geschlecht gruppierte. Ich habe dann in vielen Archiven und Sammlungen, zahlreichen Büchern oder auch im Internet recherchiert und gemerkt wie viele Künstler*innen, Fotograf*innen, aber auch Maler*innen, Bildhauer*innen oder Konzeptkünstler*innen auf diese zahlreichen Typologien reagiert haben.
Dabei wurde immer klarer, wie stark die jeweiligen Typologien von der Politik, der Gesellschaft ihrer Zeit geprägt waren. Es wurde im Laufe der Recherche deutlich, dass eine Ausstellung zum Thema Typologien auch zu einem Portrait von Deutschland im 20. Jahrhundert führen würde.
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Gab es einen konkreten Moment, ein Bild, einen theoretischen Text, der dich dazu gebracht hat, mit Typologien als konzeptuellen Rahmen zu arbeiten? Oder war es eher ein Gefühl – etwa, dass wir in einer Zeit leben, in der die Wiederkehr von Klassifikationen neue Formen der Kontrolle annimmt?
Grundlegend für meine kuratorische Praxis ist es, von der Kunst auszugehen, sich mit den Werken genau zu befassen und mit den lebenden Künstler*innen zu sprechen. Alles, was mich sonst noch begleitet, was ich mitnehme – seien es Theorien, Texte, Politik – entwickelt sich für mich immer in der Dialektik mit der Kunst selbst. Nicht so sehr ein externes Element, das gefüllt werden muss, sondern ein permanenter Begleiter.
Wenn man deine früheren Ausstellungen betrachtet – von „Inhuman“ im Fridericianum bis zu „MUSEUM“ am MMK in Frankfurt – dann fällt auf: dort ging es immer wieder um Überschreitungen, um Entgrenzungen, um das Nicht-Zeigbare. Jetzt scheinst du dich auf etwas ganz Anderes einzulassen: Wiederholung, Struktur, Raster. Ist „Typologien“ eine kuratorische Kehrtwende – oder ihre konsequente Weiterführung?
Ich denke, die Ausstellung zeigt, wie es durch die Gegenüberstellung und den direkten Vergleich möglich ist, herauszufinden, was individuell und was universell, was normativ oder real ist. Unterschiede zeugen vom Reichtum der Natur und der Phantasie des Menschen: der Farn, die Kuh, der Mensch, das Ohr; die Bushaltestelle, der Wasserturm, die Stereoanlage, das Museum.
Der typologische Vergleich ermöglicht es, Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und das Spezifische zu begreifen. Unbekannte oder bisher nicht wahrgenommene Dinge über die Natur, das Tier oder den Gegenstand, über Ort und Zeit, werden sichtbar und erkennbar, ermöglichen es uns, bemerkenswerte Ähnlichkeiten und subtile Unterschiede zu erkennen.
Zugleich, und das macht das Thema zeitgenössisch relevant, scheint das Einzigartige, das Individuelle, in einer globalen Masse aufgegangen zu sein, die Universalität der Dinge ist allgegenwärtig. Wenn die Gegenwart die Zukunft aufgegeben zu haben scheint, müssen wir die Vergangenheit genauer betrachten. Wenn alles zu schreien scheint und immer brutaler wird, ist es wichtig innezuhalten und die Stille zu nutzen, um klar zu sehen und zu denken.
Wenn Unterschiede nicht als etwas anderes gesehen werden, sondern als etwas, das uns trennt, ist es wichtig, die Gemeinsamkeiten zu erkennen.
Fig. 3
Typologien ermöglichen es uns, bemerkenswerte Ähnlichkeiten und subtile Unterschiede zu erkennen. Nirgendwo sonst sind in der Fotografie so viele Typologien wie auch ihre spielerischen und politischen Antipoden geschaffen worden als in Deutschland im 20. Jahrhundert. Sie ermöglichen eine eigene Klarheit. Unser Sehen und Denken wird durch die Systematik konzentriert und erhält dadurch die Möglichkeit, andere Details zu erblicken und größere Zusammenhänge zu erkennen.
Die systematische Erfassung war aber auch die Grundlage systematischer Vernichtung. Die Nationalsozialisten erstellten mit fotografischen Typologien rassistische Genealogien und versuchten so, ihre Gewaltherrschaft, das millionenfache Foltern und Morden vermeintlich wissenschaftlich zu rechtfertigen. Jeder fotografischen Typologie wohnt auch die Gleichwertigkeit aller Fotografien, ihrer Bildquellen und Motive inne und ermöglicht so eine Enthierachisierung.
Diese Gleichwertigkeit der Fotografien ist einfach, befreiend – aber auch erschreckend. Mit dem Ende des 20. Jahrhunderts scheint das Zeitalter der Typologien zu enden. Das Einzigartige, das Individuelle, scheint in einer globalen Masse aufzugehen, das Universelle der Dinge allgegenwärtig. Das Internet lässt Typologien in Sekundenschnelle erstellen. Und doch erscheint es gerade dann wichtig – durch den Blick von Künstler*innen gerichtet – genau zu schauen. Damit schließt für mich die Ausstellung an meine bisherige kuratorische Herangehensweise an.
In „Typologien“ wirkt der menschliche Körper oft eher wie ein Signifikant unter anderen – eingebettet in Systeme. Wie hat sich dein Verhältnis dazu verändert – nicht als Sujet, sondern als Medium kuratorischer Arbeit?
Ich denke, das ist ein sehr komplexes Thema. Körper und wo sie sich befinden, wie sie sich innerhalb der Grenzen eines Systems verhalten, ist etwas, das traditionell auf den Kopf gestellt werden kann. Etwas sehr Wichtiges über unsere eigene Komplizenschaft als Institution, das wir durch unsere Arbeit am MMK gelernt haben, war zum Beispiel bei der Ausstellung „Crip Time“.
Seitdem habe ich immer versucht, mir über die Art und Weise, wie ich eine Ausstellung aufbaue, bewusst zu sein, wie ein*e Rollstuhlfahrer*in die Werke erlebt, wie wir uns von dem, was als „Standard-Hängungs-Höhe“ konzipiert ist, wegbewegen und uns für eine Vielzahl von Menschen öffnen können. Das sind Dinge, die ich stets versuche, im Hinterkopf zu behalten und mir ihrer bewusst zu sein, wenn ich arbeite.
Fig. 4
Die Ausstellung hat eine fast klinische, zugleich humorvolle Präzision. Der Raum selbst wirkt wie ein Instrument der Typologisierung. Ist das kuratorische Komplizenschaft mit der Logik der Macht – oder die einzige Möglichkeit, ihre Raster sichtbar zu machen?
Ich versuche immer, mit den Kunstwerken zu arbeiten und nicht gegen sie. Als ich den Ausstellungsraum zum ersten Mal sah, dachte ich, dass ein Raster, und zugleich Ordnungsprinzip gut wäre. Dadurch kam es zur Idee, hängende Wände zu bauen. Denn so kann man einen Raum schaffen, der viele Verbindungen zwischen den Werken herstellt und zugleich Konzentration ermöglicht. Vergleiche, Gegenüberstellungen und Ähnlichkeiten wurden dadurch sichtbar, und zugleich öffnen sie den Raum.
Viele der Arbeiten bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Sichtbarkeit und Pathologisierung. Wie verhindert man* als Kurator*in, dass das Zeigen nicht selbst zur Fortsetzung der Gewalt wird – insbesondere bei Körpern, die historisch normiert, entzogen oder deformiert wurden?
Ich denke, es ist wichtig, unsere eigene Handlungsfähigkeit und Komplizenschaft in diesen Machtsystemen zu verstehen und in den Hintergrund zu treten. Als Kuratorin ist es mir wichtig, aktiv zuzuhören, den Kontext zu verstehen und Künstler*innen die Möglichkeit und Offenheit zu geben, selbst präsent zu sein, wenn sie diese Räume betreten. Daher war es mir wichtig, auch die problematische zerstörerische Seite von Typologien aufzuzeigen.
Du arbeitest jetzt an einem Ort wie der Fondazione Prada – ein globaler Akteur mit kulturellem Kapital, aber auch mit klaren Hierarchien. Wie viel Autonomie ist in so einem Rahmen möglich? Und was heißt Widerstand in einer Umgebung, die so stark von Symbolpolitik und Branding geprägt ist?
Ich hatte ganz freie Hand - was stets die Grundlage meiner Arbeit ist - und ein fantastisches Team, das alle konzeptuellen Ideen inspirierend bereichert und zugleich kritisch begleitet und die Umsetzung tatkräftig und mit einem grandiosen Engagement unterstützt hat.
Fig. 5
In deinen Ausstellungen steht oft die Frage im Raum: Wer darf sprechen? Wer darf gesehen werden? In „Typologien“ wirkt diese Frage leiser, fast in die Materialität eingeschrieben. Wie verändert sich für dich der Begriff von Repräsentation – in einer Zeit, in der Sichtbarkeit selbst zur Ware geworden ist?
Wir leben in einer Zeit, in der Sichtbarkeit und Lesbarkeit fast augenblicklich geworden sind. Alles soll permanent und unmittelbar konsumierbar sein. Jeder scheint nur noch zu schreien. Die Geschwindigkeit und Lautstärke sollen uns aktiv daran hindern zu denken. Dagegen muss man arbeiten. Eine Ausstellung wie „Typologien“ hält dazu an, genau hinzuschauen und auch auf leise Unterschiede zu achten.
Wenn du auf deine bisherige kuratorische Praxis zurückblickst – würdest du sagen, dass sich dein Verhältnis zur „radikalen Geste“ verändert hat? Ist es heute überhaupt noch möglich, radikal zu sein, ohne dabei sich selbst zu bestätigen? Oder gibt es da noch mehr zu entdecken?
Alles hat sich in unserer Zeit und unserer Welt radikalisiert. Nun gilt es dagegen zu arbeiten. Nicht radikal, sondern komplex zu sein. Die Welt nicht zu vereinfachen, sondern in ihrer Komplexität zu belassen.
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Die Ausstellung ist noch bis zum 14. Juli 2025 zu sehen.
- Bilder
Cover - Heinrich Riebesehl, Menschen Im Fahrstuhl, 20.11.1969, 1969. Foto: © Heinrich Riebesehl, by SIAE. Courtesy of Fondazione Prada 2025