Das Symposium „Kunst und Aktivismus in Zeiten der Polarisierung: Diskussionsraum zum Nahostkonflikt“, kuratiert von Saba-Nur Cheema und Meron Mendel, fand am 24. November 2024 statt und bot Raum für Debatten über die Verantwortung politischer Kunst im Nahostkonflikt. Anlässlich der Nan-Goldin-Ausstellung diskutierten lokale und internationale Teilnehmer*innen wie Osama Zatar, Ruth Patir, Julia Scher, Remsi Al Khalisi, Leon Kahane, María Inés Plaza Lazo, Andreas Fanizadeh, Sharon On und Saba-Nur Cheema über Kunstfreiheit, Solidarität und Diskriminierungspraktiken in Kulturinstitutionen. Nan Goldin selbst lehnte eine Teilnahme ab. Panels, Impulsvorträge und Simultanübersetzungen auf Deutsch und Englisch förderten den Dialog, doch strenge Sicherheitsmaßnahmen und massiver Widerstand gegen die Anwesenheit von Aktivist*innen prägten im Otto-Braun-Saal in Berlin eine Atmosphäre der Angst. Die Veranstaltung wurde so zum Sinnbild der kulturellen Spaltung, in der Vorwürfe, Distanzierung und Selbstbehauptung die Sprache des Diskurses auf allen Seiten zu dominieren scheinen.
Ich war die letzte Rednerin, die auf das Symposium “Kunst & Aktivismus in Zeiten der Polarisierung: Diskussionsraum zum Nahostkonflikt” eingeladen wurde, fünf Tage vor der Veranstaltung. Nach vielen Absagen wurde noch eine “israelkritische Stimme” gesucht. Absagen liessen sich so zusammenfassen: “Zionisten” wollen nicht mit “Antizionisten” sitzen, soll “Genozid” als Wort vorkommen ja oder nein. Ich schätze die Bemühungen der Kurator*innen des Symposiums, Saba-Nur Cheema und Meron Mendel, einen Raum für polarisierte Haltungen zu schaffen, sehr, aber das war nun wirklich ein fragwürdiges Casting. Angesichts der im Misstrauen geballten “Shut it Down”-Stimmung, angeführt von der Bewegung Strike Germany, stelle ich es mir unglaublich schwierig vor, die "richtigen" Stimmen zu sammeln. Ich bin hier keine Expertin wie Eyal Weizman, und kein Opfer von ungerechtfertigtem Canceling wie Adania Shibli, Candice Breitz, deren Platz ich annahm, Michael Rothberg oder Jumana Manna diese Woche in Leipzig, oder weitere Intellektuelle, die wegen politischen Äußerungen von Projekten ausgeladen wurden, deren Karrieren zerstört oder denen Preise entzogen wurden.
Ich halte diese Polarisierung für zerstörerisch, und die Frage, wie Kunst und Kultur auf die Welt reagieren können, ist dringlicher denn je. Ich bin keine Aktivistin in den ersten Reihen. Aber ich finde Aktivismus systemrelevant: Jede zivilisatorische Errungenschaft, ob die Menschenrechte oder der Wohlfahrtsstaat, ist das Ergebnis von Aktivismus. Das Symposium unterstreicht jedenfalls erneut, dass der Konflikt nicht am 7. Oktober begann, und ebenso wenig begann der deutsche Antisemitismus-und-Rassismus-Diskurs mit der Documenta Fifteen. Was jedoch seit dem 7. Oktober die Spaltungen bis in einen erbarmungslosen Vernichtungswillen hinein steigert, ist der Zwang auf allen Seiten, sofort Partei ergreifen zu müssen – ohne Raum und Zeit, um die Opfer zu betrauern: die Getöteten und Geschändeten des Massakers der Hamas am 7. Oktober, die 250 Geiseln, die über 43.000 getöteten Kinder, Frauen und Männer in Gaza, und die über zwei Millionen Palästinenser*innen, die sich in einer humanitären Katastrophe befinden, deren Ende nicht absehbar ist. Selbst wenn der Krieg endet, wird ihnen ein würdevolles Leben auf Jahre unmöglich sein.
Gazas Bevölkerung besteht aus traumatisierten, ausgehungerten und von Verstümmelungen betroffenen Menschen, deren gesamtes materielles und emotionales Leben ausgelöscht ist. Wie können wir das nicht in Verbindung damit setzen, dass unsere Steuern Waffenlieferungen im Namen der israelischen Sicherheit finanzieren, die so verheerende Konsequenzen hat, dass Israel sich vor dem Internationalen Gerichtshof für einen potentiellen Genozid verantworten muss? Darüber haben wir alle noch nicht geschafft, ohne Vorwürfe und ohne Spaltung zu sprechen. Der Hass gegenüber Migrant*innen und nicht-weißen Deutschen hat zugenommen, auch dank der AfD, die in der Instrumentalisierung des Minderheitenschutzes einen Weg gefunden hat, ihre Definition von deutscher Kultur durchzusetzen.
Ich spreche hier als Herausgeberin der mehrsprachigen Straßenzeitung Arts of the Working Class. Arts of the Working Class ist eine Zeitschrift für Kunst, Reichtum und Armut, die seit 2018 auf den Straßen Berlins und anderer Städte meist von Obdachlosen verkauft wird. Eine Straßenzeitung, die mit bescheidenen Mitteln versucht, Begegnungen eine depolarisierende Rolle zu geben, und zwar, indem in jeder Ausgabe unterschiedliche Perspektiven zusammenkommen. Aktuell drucken wir 70.000 Exemplare pro Ausgabe und sind damit die Kunstzeitschrift mit der größten Auflage der Welt – trotz systematischen Defundings. Wir befinden uns jetzt unter den wenigen, die sich noch um Dialog bemühen.
Arts of the Working Class hat stets eine klare und nuancierte Position vertreten, auch wenn wir intern unterschiedliche Perspektiven haben auf die diskursive Form, in der der Krieg und die Besatzung Palästinas behandelt und oft auch instrumentalisiert werden. Hier kommen wir manchmal nicht zusammen. Unsere Position ist dennoch kollektiv eine eindeutige: Es ist die der Gerechtigkeit und der Selbstbestimmung, unabhängig von Herkunft, Nation, Glaube oder anderen identitären Zuschreibungen. Wir stehen solidarisch mit allen, die in diesen Konflikt hineingeboren sind und die gegen repressive Strukturen anarbeiten, egal ob in Gaza, Jerusalem, in Hebron/Al-Khalil, in Tel Aviv, in Ramallah, in Bethlehem, in Nir Oz, Be’eri oder anderen Kibbuzim.
“Antizionismus ist nicht Antisemitismus”, sagte Nan Goldin in ihrer Eröffnungsrede. Ich möchte anfügen: Zionismus nicht gleich Apartheid, ethnische Säuberung oder Genozid.
Im Sommer 2024 haben wir uns in der Ausgabe Teams & Antagonisms darum bemüht, quer zu den eskalierten Grabenkämpfen kritische Perspektiven zu entwickeln. Elisa Fuenzalida berichtete über den Palästina-Kongress in Berlin. Dalia Maini sprach mit der Anthropologin Sultan Doughan über die wichtige Rolle, die die Erinnerung an den Holocaust für muslimische Palästinenser*innen spielt. Mit Isabel Frey und Michael Sappir diskutierte Maini über die Pluralität jüdischer Erfahrungen und die Tokenisierung jüdischer Identitäten in Deutschland.
Dafür wurden wir als Genozid-Verharmloser*innen und Israelhasser*innen beschimpft. Aber unsere Arbeit begann lange vor dem 7. Oktober und hat uns bereits zuvor viel gekostet – finanziell und reputativ. Unser damaliger Redakteur Ido Nahari organisierte im Frühling 2023 ein Interview mit dem Friedensaktivisten Issa Amro aus Hebron. Dafür wurden wir im April vergangenen Jahres zum Berliner Senat zitiert. Ido Nahari ist Israeli und Issa Amro ist kritisch gegenüber BDS. Der einzige Grund dafür, dass wir uns vor dem Senat rechtfertigen mussten, war, dass in der Straßenzeitung überhaupt offen über die Besatzung im Westjordanland gesprochen wurde.
Wer sich in Deutschland zu sensiblen geopolitischen Konflikten äußert, riskiert, es mit realen, greifbaren Konsequenzen zu tun zu bekommen. Aufenthaltsgenehmigungen oder sogar Staatsbürgerschaften können gefährdet sein, wenn man eine Haltung einnimmt, die als kontrovers wahrgenommen wird. Für jemanden wie mich, die noch keine deutsche Staatsbürgerschaft hat, sind diese Risiken umso größer. Ich komme aus Ecuador. Meine Familie schaute mit Angst auf meine Teilnahme an diesem Symposium, ich habe schließlich seit 17 Jahren ein Leben in diesem Land. Als Herausgeberin riskiere ich Kritik von allen Seiten. Erst recht, wenn es nicht darum geht, Partei zu ergreifen.
Der harte Widerstand in den vergangenen Wochen gegen diese Veranstaltung zeigt: Reflexion und Dialog in öffentlichen Institutionen haben ihre zentrale Rolle in der Gesellschaft verloren. Viele betrachten diese Debatte mit Misstrauen. Doch wer den Dialog vermeidet, landet irgendwann bei Gewalt. Mein Wunsch ist es, gemeinsam Formate für Verhandlungsräume zu finden, die Platz für alle Ansichten und Positionen machen.
Welche “Rolle” nimmt der “Nahostkonflikt” in der Kunst- und Kulturszene ein?
Ich halte das für eine provozierende Frage. Der Nahostkonflikt nimmt in der Kunst- und Kulturszene deshalb eine so prominente Rolle ein, weil er nicht nur ein lokaler asymmetrischer Konflikt ist, sondern als Symbol für globale Spannungen behandelt wird, die tief in kolonialen Strukturen, Fragen nationaler Identität und der Instrumentalisierung von Menschenrechten verwurzelt sind. Es wird immer schwieriger, über diesen Konflikt überhaupt zu sprechen, ohne dass er dabei von willkürlichen Behauptungen besetzt oder als Proxy für andere Konflikte genutzt wird.
So sind der Krieg und die Besatzung zugleich real und symbolisch. Durch die zunehmende Unfähigkeit, über dieselben Tatsachen zu sprechen, entgleitet uns jede politische Dimension. Die Sprache selbst wird zum Schlachtfeld, und alles, was jemand sagt, jedes “Like”, wird unmittelbar instrumentalisiert. Alles wird als Beweis für und gegen alles gebraucht. Wenn wir wissen, dass der Kampf um Deutungshoheit keine Kriege beendet oder Dekolonialisierung bewirkt, warum beharren wir darauf? Die globale Aufmerksamkeit für Leid und Ungerechtigkeit erscheint selektiv.
In Deutschland wird diese Dynamik durch ein spezifisches Problem verschärft: das unaufgearbeitete Doppelerbe von Rassismus und Antisemitismus. 92 Prozent aller Deutschen waren nie in Israel/Palästina, wie Meron Mendel im “Spiegel” schrieb. Warum haben dann alle eine Meinung? Die Leerstelle eines gelebten und mit Erfahrung gefüllten Umgangs mit Antisemitismus wird zunehmend von Rechtsextremen und Populisten besetzt, die autoritäre und polarisierende Diskurse normalisieren. Statt sich dieser Herausforderung zu stellen, verharrt die Kulturszene oft in reflexhaften Strategien wie Boykotten oder dem Canceln – symbolische Maßnahmen und moralische Abkürzungen, die selten zu nachhaltigen Lösungen führen, sondern alle Akteure isolieren. Die übersehene Frage ist: Gegen wen richtet sich die symbolische Ebene dieses Krieges eigentlich, und was gibt es mit ihr zu erreichen?
Die Kunst- und Kulturszene trägt die Verantwortung, sich solchen verkürzten Logiken zu widersetzen. Das erfordert jedoch die Bereitschaft zur Selbstkritik, da auch notwendige Bewegungen oft an Ego-Konflikten und einem Mangel an strategischer Kohärenz scheitern. Während autoritäres Denken zunehmend salonfähig wird und die Gefahr einer rechtsextremen Bundeskanzlerschaft greifbar erscheint, droht die Kulturszene, sich in symbolischen Kämpfen zu verlieren, statt die Wurzeln dieser Dynamiken freizulegen.
Es geht nicht darum, "pro" oder "contra" eine Bewegung, für oder gegen ein Land oder eine Seite Stellung zu beziehen. Es geht darum, die Mechanismen zu entlarven, die diese Konflikte und unsere Diskurse darüber prägen.
Deutsche Institutionen dürfen sich nicht als moralische Instanz inszenieren, während sie die politischen und historischen Komplexitäten in ihren eigenen Strukturen ignorieren. Ein Aktivismus, der moralische Eindeutigkeit über Reflexion stellt, riskiert, mehr zu spalten als zu verbinden. Der Nahostkonflikt ist wichtig – aber nur, wenn wir ihn als Teil eines größeren Netzes von Kämpfen und Ungerechtigkeiten begreifen. Wo ist die intersektionale Solidarität gegenüber allen Leidenden geblieben? Der Nahostkonflikt ist wichtig – aber nur, wenn wir ihn als Teil eines größeren Netzes von Kämpfen und Ungerechtigkeiten begreifen. Viele Förderer der US-Bürgerrechtsbewegung waren jüdisch, darunter Holocaust-Überlebende. Die Linke in Israel fühlt sich seit Jahren von der Welt alleingelassen in ihrem Kampf gegen Netanyahu. Wo hat die Linke ihre intersektionale Intelligenz gelassen?
Ich wünsche mir, dass wir aus dieser kriegerischen Logik herauskommen, die Positionen in "pro" oder "contra" kategorisiert. Der Kunst- und Kulturszene wird vorgeworfen, sie sei einseitig pro-palästinensisch, da viele Werke auf die Probleme der Besatzung und Menschenrechtsverletzungen hinweisen. Gleichzeitig wird pro-israelischen Haltungen oft unterstellt, dass sie Antisemitismusvorwürfe instrumentalisieren. Beide Reduktionen werden der Realität nicht gerecht. Viele Künstler*innen und Aktivist*innen bemühen sich darum, die Komplexität der Situation aus verschiedenen Perspektiven darzustellen, was jedoch häufig missverstanden wird oder in vereinfachenden Deutungen mündet. Dabei muss Polarisierung an sich nicht zwangsläufig destruktiv sein. Sie kann auch Machtstrukturen offenlegen und neue Diskurse anstoßen. Die entscheidende Frage ist, wie wir mit dieser Polarisierung umgehen.
Jenseits der Polarisierung
Die Gegenüberstellung von Institutionen wie der Neuen Nationalgalerie und Aktivist*innen ist tatsächlich eine falsche Dichotomie, die auf oft simplifizierende Narrative zurückgeht. Diese Einteilung in „mächtige Institution“ und „oppositionelle Bewegung“ blendet die komplexen Wechselwirkungen zwischen beiden aus, die für eine dynamische, konfliktfähige und gerechte Gesellschaft entscheidend sind.
Ein Beispiel dafür liefert die jüngste Diffamierungskampagne der Zeitung Die Welt, die eine klare Trennung zwischen Kunstinstitutionen und politischen Bewegungen forciert. Diese Darstellung konstruiert ein Bild, in dem Institutionen als „neutrale“ Hüterinnen kultureller Werte dargestellt werden, während Aktivist*innen wie Strike Germany als destruktive Kräfte erscheinen, die diese Werte angeblich bedrohen. Tatsächlich jedoch können solche Narrative nicht nur dazu führen, die Legitimität von Aktivist*innen zu untergraben, sondern auch Institutionen in eine Verteidigungshaltung drängen, die ihren eigentlichen Auftrag – die Förderung von Empathie, Vorstellungskraft und Gerechtigkeit – beeinträchtigt.
Aktivist*innen spielen eine entscheidende Rolle, indem sie Missstände öffentlich machen und Institutionen zwingen, sich kritisch mit ihren eigenen Strukturen, Förderbedingungen oder narrativen Strategien auseinanderzusetzen. Ein Beispiel ist der Druck, den Bewegungen auf Museen ausüben, um koloniale Sammlungspraktiken oder problematische Sponsoren zu hinterfragen. Ohne diese Kritik blieben viele Institutionen in einem Zustand der Selbsterhaltung gefangen, der Veränderungen blockiert. Gleichzeitig bieten Institutionen wie die Neue Nationalgalerie Bewegungen eine Plattform, die ihre Reichweite und ihre Wirkung verstärken kann. Historische Beispiele zeigen, dass kulturelle Institutionen oft Katalysatoren für soziale Bewegungen waren, etwa durch die Bereitstellung von Räumen für Diskussionen oder durch Ausstellungen, die gesellschaftliche Themen aufgreifen. Es gibt unzählige Beispiele aus der ganzen Welt, die auf die dialektische Interaktion zwischen Institutionen und sozialen Bewegungen hinweisen.
Diese wechselseitige Beziehung ist nicht konfliktfrei – und sollte es auch nicht sein.
Eine dialektische Interaktion bedeutet, dass Bewegungen Institutionen herausfordern, während sie Bewegungen Raum und Sichtbarkeit bieten, um ihre Anliegen in die Gesellschaft zu tragen. Ein gelungenes Beispiel für eine solche Zusammenarbeit könnte ein regelmäßiges Feierabend-Format sein, ähnlich dem Lunch-Konzert der Philharmonie, bei dem einmal im Monat ein zentrales Thema wie Arbeitsrechte, Zugänglichkeit oder strukturelle Ungleichheiten in der Kunstwelt diskutiert wird. Diese Treffen könnten kostenlos und informell gestaltet werden, sodass Aktivist*innen, Kunstschaffende, Institutionsmitarbeiter*innen und interessierte Besucher*innen gemeinsam an einem offenen Dialog teilnehmen. Die Gesprächsleitung wäre rotativ: Jedes Mal übernimmt eine andere*r Gastgeber*in die Moderation – sei es ein*e Aktivist*in, ein*e Kurator*in oder ein*e Museumsmitarbeiter*in – und bringt dabei persönliche Perspektiven und spezifische Erfahrungen und Dynamiken ein.
Aktivist*innen sollten somit auch von institutionellen Ressourcen profitieren können, etwa durch Zugang zu Räumen, technischer Infrastruktur oder Netzwerken, die bisher sonst verschlossen bleiben. Umgekehrt können Institutionen durch die Zusammenarbeit mit Bewegungen ihre gesellschaftliche Relevanz und Glaubwürdigkeit stärken. Gerade in Zeiten zunehmender Kritik an kulturellen Institutionen wegen ihrer Verstrickung in koloniale oder kapitalistische Strukturen bietet die Zusammenarbeit mit Aktivist*innen eine Möglichkeit, transformative Prozesse einzuleiten. Ein Verhaltenskodex wäre für und von beiden Parteien zu formulieren.
Die vermeintliche Gegnerschaft zwischen Institutionen und Bewegungen finde ich jedenfalls nicht nur übermäßig vereinfachend, sondern auch konspirativ; etwas, was auch Rechtsextremisten gerne normalisieren. Institutionen und Bewegungen spielen unterschiedliche, aber komplementäre Rollen im Streben nach Gerechtigkeit. Ihr Verhältnis sollte nicht als Konflikt, sondern als dynamischer Dialog verstanden werden – ein Prozess, in dem beide Seiten voneinander lernen und gemeinsam gesellschaftliche Fortschritte erzielen können.
Um eine Brücke zwischen diesen scheinbar unvereinbaren Positionen zu schlagen, müssen die freien und etablierten Kunstszenen diese Räume ernst nehmen und nicht nur alternative Orte schaffen, in denen Dialog und Reflexion ermöglicht werden. Dies erfordert die Bereitschaft, Komplexität auszuhalten und die Bedingungen für einen offenen, aber kritischen Austausch zu fördern. Nur so können wir dazu beitragen, dass sich unterschiedliche Perspektiven annähern, ohne dabei ihre Integrität zu verlieren.
Dafür brauchen die Institutionen aber auch das Vertrauen ihrer Arbeitgeber*innen, der Politik. Und die wiederum hängt davon ab, dass auch Medien den Raum für eine differenzierte Debatte bieten. Leider gehorchen traditionelle Medien inzwischen zunehmend der polarisierenden Schwarz-Weiß-Logik von Social Media. Das ist ein entscheidender Grund, warum Institutionen zunehmend aus Angst heraus handeln und sich immer weniger weder auf ihre Fachexpertise berufen noch auf die jahrelangen Leistungen, die viele Theater, Museen und Fonds gegen Diskriminierung erbracht haben.
Aktivist*innen als unvollkommene Träger des Wandels
Bewegungen wie Arts & Culture Alliance, ANGA (Arts Not Genocide Alliance) und Strike Germany versuchen, kollektive Aktionen gegen die Normalisierung von Ungerechtigkeit zu mobilisieren. Und auch wenn ich den kulturellen Boykott grundsätzlich für falsch halte sowie das Verunglimpfen der Künstlerin Ruth Patir für unnötig und ungerecht angesichts ihrer feministischen Arbeit und ihres Friedensaktivismus, denke ich, dass Patirs grundlegende Forderungen und künstlerische Praxis unterstützenswert sind, und dass eigentlich jede*r protestieren sollte, wie er*sie kann. Bewegungen sind nicht ohne Fehler: Egozentrische Aktionen, Diffamierungskampagnen, interne Konflikte und ein Mangel an strategischer Kohärenz können ihr Potenzial untergraben. Die Tendenz zu reaktionären statt reflektierten Antworten kann Bewegungen taktisch, effektiv, aber strategisch fehlleiten. Die Frage, die sich daraus ergibt, lautet: Unterstützen wir Bewegungen auch dann, wenn wir ihre Taktiken nicht gutheißen? Wenn ja, wie? Während ich an Allianzen zwischen Institutionen und Bewegungen glaube und auch hier dafür werben möchte, halte ich es auch für entscheidend zu fragen, ob ihre Handlungen langfristige Ziele voranbringen oder lediglich eine Katharsis bieten, die als Ersatz für echten, bedeutungsvollen Einfluss dient. Auch hier müssen Bewegungen von innen aus Selbstkritik üben.
Dies ist keine Unterminierung von Bewegungen oder Institutionen, sondern ein Aufruf zur Selbstreflexion.
Aktivist*innen müssen sich fragen, ob ihre Methoden nachhaltige Koalitionen bilden oder potenzielle Verbündete entfremden, ob sie Räume für Dialog schaffen oder bloß Echokammern verstärken. Wir müssen anerkennen, was der Kampf der Rechten gegen diese Form der Solidarität – Intersektionalität – eigentlich delegitimieren möchte: Aktivist*innen aus zahllosen Gruppen weltweit haben sich dem Kampf für Palästina angeschlossen, von der Schwarzen Emanzipation bis hin zu Vertreter*innen von trans*-Rechten. Sie tragen die Erfahrung von Vertreibung und Diskriminierung in sich und verstehen, dass Palästinenser*innen sich in einen dekolonialen und emanzipatorischen Kampf gezwungen sehen. Dieses Wissen ist wichtig und muss in die Herzen der Kulturinstitutionen zurückkommen, wo es eigentlich bis vor zwei Jahren einen Platz hatte. Ebenso sollte, wer kann, nach Israel/Palästina reisen und die Menschen unterstützen, die vor Ort seit Jahrzehnten für Gerechtigkeit kämpfen. Und Institutionen müssen sich der Frage stellen, warum israelische Künstler*innen seit etwa zehn Jahren einen schleichenden stummen Boykott wahrnehmen.
Jasleen Kaurs Rede als diesjährige Turner-Preis-Trägerin während der Verleihung in der Tate Britain, die live auf dem BBC News Channel übertragen wurde, stand sinnbildlich für eine Atmosphäre, die Angst und Eskalation überwindet und stattdessen Raum für Solidarität schafft. Ohne Polizeipräsenz und Sicherheitskontrollen bot die Veranstaltung eine offene Umgebung, die eine positive und inklusive Stimmung förderte. Für ihre Würdigung der schottischen Sikhs und ihre Fähigkeit, „mit unerwarteten und spielerischen Materialkombinationen unterschiedliche Stimmen zusammenzubringen“, wurde Kaur die bedeutendste britische Auszeichnung für moderne Kunst verliehen, die in diesem Jahr ihren 40. Geburtstag feierte. Ihre Worte zeigen, dass Kunst als Plattform für gesellschaftliche Verantwortung dienen kann und sie erinnern daran, dass künstlerische Arbeit nicht nur kulturelles Gedächtnis erforscht, sondern aktiv zur Gestaltung eines gerechteren und reflektierten gesellschaftlichen Diskurses beiträgt.
Nan Goldins und Jasleen Kaurs Worte sind nicht weit voneinander entfernt, jedoch radikal unterschiedlich in ihrem Ansatz und ihrer Ausdrucksweise. Während Goldin den Fokus auf die Verbindung von Kunst und aktivistischem Engagement legt, nutzt Kaur ihre Position, um strukturelle Veränderungen durch öffentlichem Dialog innerhalb großer Kunstinstitutionen zu fordern. Die Kraft von Dialog und Kunst, Brücken zu schlagen, zeigt sich in Projekten, die bewusst auf Konfliktlinien blicken und nach neuen Wegen suchen, diese zu überwinden:
„Standing Together“
Diese jüdisch-arabische Bewegung, gegründet von Alon-Lee Green und Rula Daood, verbindet sozialen Aktivismus und politische Strategien, um durch Solidarität und gemeinsame Ziele Veränderung zu bewirken. Ihre Philosophie des Wandels ist klar formuliert und setzt auf langfristige Organisierung und Diversität.
Kernpunkte:
- Politik der Hoffnung schaffen: Durch kleine Ziele und konkrete Erfolge wird Hoffnung geweckt und Handlungsspielraum sichtbar gemacht.
- Alle Menschen ansprechen: Nicht im Namen eines Volkes, sondern in Vertretung aller Communities – jüdisch, arabisch, säkular, religiös, urban, ländlich.
- Linke Ideen verständlich machen: Klare und überzeugende Sprache, die nicht polarisiert, sondern einlädt.
- Das „Offensichtliche“ hinterfragen: Politische Annahmen entmystifizieren und Alternativen aufzeigen.
- Diversität stärken: Schwerpunkt auf marginalisierte Communities und geografische Peripherie legen.
- Eine Bewegung für alle: Demokratische, partizipative Strukturen fördern.
- Wachsen durch Teilhabe: Mitgliederzahlen steigern und neue lokale Gruppen gründen.
- Die richtige Kultur leben: Transparenz, Offenheit und Inklusion im Inneren der Bewegung verankern.
- Gegen Besatzung und für Frieden handeln: Die Bewegung sieht dies als unverzichtbaren Teil ihrer Identität.
- Solidarität zeigen: Kooperation mit anderen Kämpfen ohne Dominanz oder Aneignung.
- Alle potenziellen Partner ernst nehmen: Niemanden aufgeben, der noch nicht überzeugt ist.
- Strategisch handeln: Prioritäten klar setzen und Chancen ergreifen.
- Bildung und Gemeinschaft fördern: Ein Netzwerk des solidarischen Lernens aufbauen.
„Trotzdem Sprechen“
Das Buch Trotzdem Sprechen, herausgegeben von Lena Gorelik, Miryam Schellbach und Mirjam Zadoff und erschienen im April 2024 bei Ullstein, liefert einen methodologischen Ansatz, wie wir inmitten von Konflikten sprechen und handeln können. Es ermutigt, nicht vor den Gräben zurückschrecken, sondern sie aktiv zu überbrücken.
Kernpunkte:
- Unabdingbare Empathie und Solidarität für alle Betroffenen. Antifaschismus, aber mit Manieren
- Rigorose Wertschätzung der Pluralität der Meinungen und Hintergründe
- Pflege von Offenheit und Bescheidenheit für fruchtbare Diskussionen
- Bereitschaft zur kognitiven Flexibilität, um festgefahrene Meinungen zu hinterfragen
- Förderung toleranter und respektvoller Kommunikation
- Unermüdliche Forderung nach struktureller Gleichheit und Gerechtigkeit
- Umfassende Kontextualisierung historischer und aktueller Ereignisse
- Unterstützung und Förderung kritischer Allianzen zwischen verschiedenen Gruppen
- Handeln in Selbstreflexion: Ist es notwendig, Recht zu haben, oder kann ich die Menschen in Ruhe trauern lassen?
Diese sind Beispiele für mich, um die dringende Alternativen zur Spaltung zu formulieren. Wir wollen diese Themen in weiteren Beiträgen vertiefen.
- Bildnachweis:
© Neue Nationalgalerie / Ali Ghandtschi