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WAS HAT DAS PROBLEM DER ENTFREMDUNG MIT DER ENTFREMDETEN ARBEIT BEI MARX AUF SICH?

Entfremdung als Ergebnis der Enteignung der Arbeit.

  • Feb 09 2022
  • Rahel Jaeggi
    Prof. Dr., Philosophin, Professorin für Praktische Philosophie, Rechts- und Sozialphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, seit 2018 Leiterin des Centers for Humanities and Social Change in Berlin. Gegenstand ihrer Forschung sind u. a. die Begriffe der Entfremdung, der Kommodifizierung, der Ideologie, der Lebensform, der Institution und der Solidarität. Veröffentlichungen (Auswahl): Kapitalismus – ein Gespräch über Kritische Theorie (2020, mit Nancy Fraser); Entfremdung – Zur Aktualität eines sozialphilosophi schen Problems (2016); Kritik von Lebensformen (2014).

Spricht man von Entfremdung oder gar von entfremdeter Arbeit, so stellen sich schnell sehr deutliche Bilder ein: Charlie Chaplin im Blaumann, hilflos dem Räderwerk einer unbarmherzig ihn verschlingenden Fabrik ausgeliefert; Arbeiterinnen am Fließband, beschäftigt mit repetitiven stumpfen Handgriffen und getrieben vom Takt der Maschinen; bis ins Kleinste zerteilte Arbeitstätigkeiten, deren Sinn sich dem Einzelnen nicht erschließt. Es sind solche Assoziationen, die bis heute auch die Deutung des Marx’schen Entfremdungsbegriffs bzw. seiner Entfremdungstheorie bestimmen. Nun sind diese Assoziationen nicht ganz abwegig. Entfremdung ist so das Resultat eines Enteignungsprozesses: 

Wenn das Produkt der Arbeit nicht dem Arbeiter gehört, eine fremde Macht ihm gegenüber ist, so ist dies nur dadurch möglich, daß es einem andern Menschen außer dem Arbeiter gehört. Wenn seine Tätigkeit ihm Qual ist, so muß sie einem anderen Genuß und die Lebensfreude eines anderen sein.

Entfremdung ist aber nicht nur Enteignung, sondern, breiter gefasst, Resultat eines misslingenden Aneignungsprozesses. Entfremdet besitzt man nicht, was man selbst produziert hat, ist also ausgebeutet und enteignet; man verfügt und bestimmt nicht über das, was man tut, ist also machtlos und unfrei; und man kann sich in seinen eigenen Tätigkeiten nicht verwirklichen, ist also sinnlosen, verarmten und instrumentellen Verhältnissen ausgesetzt, Verhältnissen, mit denen man sich nicht identifizieren kann und in denen man mit sich entzweit ist. Umgekehrt steht die dem von Marx entgegengestellte «wirkliche Aneignung» für eine Form des «Reichtums», der über die bloße Frage der Verteilung von Besitztümern hinausgeht. «Aneignung» in diesem Sinn zielt gleichermaßen auf Inbesitznahme, Ermächtigung und Sinn. 

Entscheidend für dieses Verständnis von Aneignung und Entfremdung ist die Fundierung in einem philosophischen Begriff von Arbeit – als dem für Marx paradigmatischen menschlichen Weltverhältnis, in dem Arbeit als Entäußerung und Vergegenständlichung menschlicher Wesenskräfte konzipiert wird. Knapp skizziert: Vermittelt über Arbeit werden die «menschlichen Wesenskräfte», der Wille, die Ziele und die Fähigkeiten von Menschen «gegenständlich»; sie materialisieren sich, indem sie sich in die Welt «entäußern». Das Vermögen der Arbeit, gedacht als Stoffwechselprozess mit der Natur, transformiert so gleichzeitig die Welt wie den Menschen. Der Mensch erzeugt also gleichzeitig sich und seine Welt, er erzeugt sich, indem er seine Welt erzeugt und umgekehrt. Und er macht sich, sofern dieser Prozess gelingt, gleichzeitig die gegenständliche Welt und sich selbst zu eigen. 

Folgenreich für den Entfremdungsbegriff ist nun folgende Wendung: Wenn ein gelingender Selbst- und Weltbezug qua Arbeit als ein Prozess von Entäußerung, Vergegenständlichung und Aneignung dieser menschlichen «Wesenskräfte» vorgestellt wird – im Sinne der aneignenden Bezugnahme auf die vergegenständlichte eigene Arbeitskraft –, so stellt sich Entfremdung dar als das Scheitern dieses Prozesses, als verhinderte Rückkehr aus dieser Entäußerung. Was scheitert, ist also genau genommen eine Art von Rückholbewegung, die das Entäußerte dem Entäußernden «zurückgeben» soll. Derjenige, der etwas produziert, entäußert sich in die Welt, vergegenständlicht sich bzw. «seine Wesenskräfte» in dieser und eignet sie sich, vermittelt über das Produkt, wieder an. In der berühmten Marx’schen Metapher von der Industrie als «Spiegel»18 der menschlichen Gattungstätigkeit kommt das zum Ausdruck. In diesem Bild bedeutet Versöhnung, Aufhebung von Entfremdung die Deckungsgleichheit zwischen dem sich Spiegelnden und dem Gespiegelten. Umgekehrt ist Entfremdung die verhinderte Aneignung der entäußerten eigenen Wesenskräfte, also das Unvermögen, sich im Spiegel zu erkennen, oder die Entstellung des Spiegelbilds.

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This text was published in the Extrablatt of ISSUE 19: ANTICRISTOS, a dialogue between AWC and the Deutsches Historisches Museum (DHM), in the frame of the exhibition Karl Marx und der Kapitalismus, opening on February 10, 2022.

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